Léonide (German Edition)
dass ich die Barriere zum Wachen durchbreche und aufstöhne. Hitze, Eiseskälte, Schüttelfrost, unzählige Gedanken und Bilder, die auf mich niederprasseln wie Regen und sich ins Innere meiner Lider brennen, als hätte ich zu lange in die Sonne geschaut.
Der Tod meines Bruders. Meine Eltern. Die Begegnungen mit Costantini, immer und immer wieder – das erste Mal im Amphitheater in Arles, später in meinen Träumen. Costanzo. Colombera. Seine seltsame Verjüngung … Auch Willem ist ihm begegnet, ob nun im Wachen oder Schlafen. Hat einen Pakt mit ihm geschlossen, den Costantini nun, da Willem tot ist, au f mich übertragen hat. Eine Übereinkunft. Mögliche r weise – nein, sehr wahrscheinlich – erwartet mich dasse l be, was meinem Bruder widerfahren ist.
Was ist Costantini für ein Mensch – für eine Kreatur in Menschengestalt? Was geschieht mit mir? Die Dinge, die ich sehe, die ich durchlebe – ich weiß nicht mehr, welche von ihnen real sind und welche nicht. Es sind nicht nur die Bege g nungen mit Costantini, die mich an meinem Verstand zweifeln lassen, es sind auch jene mit Willem. Begegnungen, die inzw i schen nicht mehr nur in meinen Träumen stattfinden. Halluz i niere ich oder verharrt mein Bruder tatsächlich im Diesseits, vielleicht, um mich vor irgendetwas – Costantini – zu warnen? Kann – darf ich vielleicht sogar den unmöglichen Gedanken zulassen, dass Willem noch lebt?
Nein . Ich zwinge mich, den Gedanken beiseitezuschieben . Auf diesem Weg lauert der Wahnsinn.
Vielleicht hatte Frédéric r echt , als er sagte, ich solle meine Pläne aufgeben und mein Leben leben, meinen Groll gegen Costantini vergessen. Ich verfolge eine fixe Idee, sagte er.
Wenn ich aber meine Pläne aufgegeben hätte, hätte das nicht bedeutet, auch die Art, wie Willem gestorben ist , zu verge s sen? Seinen Tod zu vergessen? Ihn zu vergessen?
All das geschieht innerhalb weniger Sekunden, doch es gibt eine Erinnerung, die schmerzhafter ist, lauter dröhnt und he l ler brennt als alle anderen. Frédéric . Ich habe Frédéric verl o ren. Weil ich glaubte, allein besser zurechtzukommen als in seiner Begleitung; weil ich glaubte, dass meine Suche mir ohne ihn leichter fallen würde.
Er ist fort. Fort. Ich habe seine Hilfe abgelehnt, seine Liebe abgelehnt. So etwas kann nicht verziehen, eine solche Wunde kann nicht sauber vernäht werden. Ich habe ihn for t geschickt, weil ich ihn nicht verletzen wollte und seine Zweifel nicht e r tragen konnte. Warum habe ich nicht begriffen, dass meine Ablehnung die schlimmste Verletzung von allen war?
Töricht, Léo. Töricht .
Was soll ich tun? Kann ich den vorgegebenen Pfad bis ans Ende beschreiten? Werde ich An tworten auf meine Fragen finden oder werde ich untergehen? Ich begreife inzwischen, dass genau das passiert ist, wovor Frédéric mich gewarnt hat. Ich habe meine Pläne über alles andere gestellt, habe die Me n schen, die mir wichtig waren, aufgegeben und erst jetzt ve r standen, dass ich das, was ich einmal besessen habe, nicht aufs Spiel hätte setzen dürfen.
Es fühlt sich kalt an. So viele Gedanken, die gleichzeitig auf mich einstürmen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich dem Tod ins Auge geblickt. N icht nur das. Ich habe mich r e gelrecht in seine Arme geworfen. Ich hätte mein Leben geo p fert, um wieder bei Willem sein und verge s sen zu können, was ich zerstört habe. Aber so funktioniert es nicht; man kann nicht immer davonlaufen und die eigenen T a ten sind die, die einen am längsten verfolgen, bis in den Tod und darüber hi n aus. Ich kenne die Geschichten vom jüngsten G e richt, aber auch, wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich ihnen Glauben schenken soll, weiß ich doch, dass alles, was man tut, Kons e quenzen nach sich zieht.
Ich bin nicht religiös, obwohl ich vor Willems Tod immer mit ihm und meinen Eltern zur Kirche gegangen bin. Inne r lich aber war ich mir stets darüber im Klaren, dass das Chri s tentum mir keine Antworten auf meine Fragen liefern kann . Wie kann ich an einen Gott glauben, der nicht in der L a ge ist, zu verzeihen? Stimmt es, dass Willems unsterbliche Se e le in der Hölle fortdauern wird, wie die Menschen s a gen?
Nein. Die Hölle ist kein von einer überirdischen Macht oder einem feindlichen Teufelsbild geschaffener Ort. Die Menschen haben sie erschaffen. Jede schlimme Tat, die wir begehen, bleibt unvergessen, wir schleppen sie bis ans Ende mit uns herum, ein Ballast, der erst im Tod von unseren Schultern fällt. Die
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