Léonide (German Edition)
»Es ist beinahe zwölf Uhr mittags, und nur, weil Georgette rund um die Uhr damit beschäftigt ist, sich um Sie zu kümmern, steht das Essen noch nicht auf dem Tisch.«
»Herbert! Du wirst schon nicht vom Fleisch fallen . «
»Das wäre ja noch schöner«, brummt er.
»Es tut mir leid … Ich wollte nicht … «
»Hören Sie nicht auf den alten Nörgler.« Mit einem schma l lippigen Ausdruck, der ein Lächeln, aber auch ein Zeichen des Zorns sein könnte, wendet sie sich wieder an ihren Mann, der gerade an den Kamin getreten ist und nach einer zerbeulten Dose greift, die auf dem Sims liegt. »Du hast hoffentlich nicht vor, hier drinnen zu rauchen – du weißt, das ist nicht gut für das Mädchen . Übrigens auch nicht für dich, aber du willst ja nie auf mich hören. Los, raus mit dir!«
Herbert macht ein Gesicht, das Georgettes in nichts nac h steht, und murmelt einen Fluch.
»Schimpf ruhig«, sagt Georgette, »es ändert doch nichts. Raus mit deiner Pfeife und dem Tabak!«
Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass Herbert tatsächlich tut, wie ihm geheißen.
»Entschuldigen Sie meinen Mann«, sagt Georgette. »Er mag Ihnen grob vorkommen, aber im Grunde ist er ein guter Mensch.«
Ich nicke langsam, zucke aber zusammen, als der Schmerz in meinen Nacken und den Kopf schießt. Stöhnend frage ich: »Seit wann bin ich hier?«
»Mein Mann hat Sie vorgestern Nacht vor unserer Haustür gefunden. Sie haben sich in die Ecke gekauert, als hätten Sie Angst. Als er sie entdeckt hat, sind Sie ohnmächtig geworden. Sie hatten hohes Fieber. Erinnern Sie sich noch daran, was passiert ist?«
»Nein«, lüge ich. »Dann bin ich also seit zwei Nächten bei Ihnen im Haus? Ich muss Ihnen furchtbare Mühe bereitet h a ben. Das kann ich nicht wiedergutmachen.«
»Unsinn .« Georgette tätschelt meine Hand, die so ganz a n ders aussieht als ihre, der man die jahrelange Arbeit deutlich ansieht. Meine Hände sind nicht knotig; es sind Hände, mit denen man Klavier spielt, ein Buch oder eine Feder hält. O b wohl ich nichts dafürkann , dass wir so unterschiedlicher He r kunft sind, schäme ich mich und schiebe meine Hände unter die Decke.
Georgette scheint meinen Gedanken zu erraten, als hätte sie ihn in der Luft aufgeschnappt, ehe er verfliegt. »Sie sind ein gutes Mädchen – keines, dass für einen Hungerlohn schuften muss. Sie tragen schöne Kleider. Ich habe ihres gewaschen und das Nachthemd, das Sie tragen, aus Ihrem Koffer genommen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Natürlich nicht.« Unbehagen bereitet mir lediglich die Vo r stellung, so krank gewesen zu sein, dass sie alles für mich tun musste, während ich schlief und fantasierte. Wieder stehe ich in Jemandes Schuld. Georgette und Herbert haben mir das Leben gerettet .
Meine Gefühle gegenüber Frédéric waren ähnlich. Vor lauter Angst, meine ohnehin eingeschränkte Unabhängigkeit aufg e ben zu müssen, habe ich ihn aufgegeben und nicht b e griffen, dass ich damit auch Freundschaft und Liebe aus meinem L e ben vertrieben habe.
»Ich war nie eines dieser hübschen, gebildeten Mädchen«, sagt in diesem Augenblick Georgette. »Leider. Früher wollte ich immer so sein wie Ihresgleichen.«
Sie zieht ein behütetes, aber zielloses Leben also einem vor, in dem man Herr seiner selbst ist und niemandem Reche n schaft schuldet? Ich dagegen würde viel darum geben, ein so schlichtes, freundliches Gemüt zu besitzen und so anpackend zu sein wie sie. Sie tut etwas. Sie ist keine Gefangene von G e danken oder Träumen. Mit Sicherheit hat die Finsternis sie niemals zu sich in die Tiefe gelockt. Niemand ist vor Leid, Albträumen und Halluzinationen sicherer als sie.
»Ich hasse meine Hände«, sage ich. »Sie mögen sauber sein, aber sie werden niemals eine Geschichte zu erzählen haben. Sie werden niemals Hände sein, auf die man stolz sein kann, weil sie Schutt und Gestein beiseitegeschafft haben. Sie kö n nen nicht heilen, sind unfähig, etwas gedeihen zu lassen und haben nicht die Kraft, tatkräftig zuzupacken.«
Georgette betrachtet mich forschend. »Sie sehen nicht so aus, als würden Sie sich mit einem Leben in Untätigkeit abfi n den. Genauso wenig wie Ihre Hände.«
Ihre Worte bringen mich zum Lächeln, ein warmes, fast heimeliges Gefühl.
»Machen Sie sich keine Gedanken.« Sie schenkt mir aus e i nem Krug, der auf dem Nachttisch steht, einen Becher Wa s ser ein. »Mir reicht ein einfaches Dankeschön, um Ihre Schuld zu begleichen. Ich finde es
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