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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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schön, einmal einen Gast im Haus zu haben – auch, wenn er die meiste Zeit schläft. Es ist, als hätte ich eine Tochter bekommen.« Sie zwinkert mir zu. »Ich wollte immer Kinder.«
    Wie soll ich so viel innerer und äußerer Gelassenheit, so viel Hilfsbereitschaft begegnen? Noch dazu von einer Fremden, die mich nicht kennt und keinen Grund hat, meine Wäsche zu waschen, mir ein Bett zur Verfügung zu stellen oder meine fiebrige Stirn zu kühlen. Und sie verlangt nicht einmal eine Gegenleistung.
    »So«, seufzt Georgette und drückt mir den Becher in die Hand, »jetzt wollen wir mal sehen, was wir für Sie tun können. Ich lasse Sie ein bisschen allein und koche Ihnen eine Suppe. Brauchen Sie sonst noch irgendetwas?«
    Völlig zerschlagen schüttle ich den Kopf. »Ich danke Ihnen.«
    »Nennen Sie mich Georgette. Später beim Essen müssen Sie mir alles über sich erzählen.«
    »Gern.« Wie es aussieht, werde ich mir wohl eine Ausrede einfallen lassen müssen, warum ich allein und todkrank durch Les Baux geirrt bin. »Ich bin Léonide. Léonide Géroux.«
    Georgette nickt und streicht die Bettdecke über meiner Brust glatt, ehe sie das Zimmer verlässt, um ihrem Mann die Leviten zu lesen und die Suppe zu kochen, die sie mir verspr o chen hat.
     
    Am nächsten Tag habe ich mich bereits so weit erholt, dass ich das Bett verlassen und nach draußen gehen kann. Das Fi e ber und die Albträume sind einer tiefen Erschö p fung gewichen. Ich genieße die letzten, spärlichen Strahlen der Herbstsonne und erfreue mich an der kräftigen Gebirgsluft, verbiete es mir aber weiterhin, über die Dinge, die ich erlebt habe, nachz u denken. Ich weiß, dass gerade dem grüblerischen Melanchol i ker früher oder später der Sinn für die Realität abhande n kommt – ich habe die Spuren an meinem Bruder ges e hen. I ch werde diesem Weg nicht länger fo l gen. Ich muss nach Arles zurückkehren, muss mich der Trauer meiner Eltern stellen und versuchen, ins Leben zurückzufi n den. Es wird nicht mein altes Leben sein – dafür ist zu viel geschehen, das nicht rüc k gängig gemacht werden kann –, doch ich werde es nach meinen eig e nen Regeln gestalten, wie mein Bruder es getan hat.
    Ich begreife, dass er selbst nach seinem Tod nicht aufgehört hat, mich zu lehren: Er hat mir gezeigt, was Schmerz und Ve r lust bedeuten und dass es gefährlich ist, sich Illusionen hinz u geben. Sein Tod darf nicht umsonst gewesen sein.
    Ich ziehe meinen Wollschal enger um die Schultern und m a che mich fröstelnd auf den Weg zurück ins Haus der Segals. Sie sind Bauern, die jeden Tag auf den schmutzig braunen Äckern schuften und die Kartoffelernte einfahren. Während die Sonne ihnen in die Gesichter und auf die Schultern brennt, graben sie mit bloßen Händen in der Erde und ziehen die dunklen Knollen aus dem Boden. Ich h a be sie beobachtet. Abgesehen vom gestrigen Tag, an dem Georgette sich ohne Unterbrechung um mich gekümmert und nicht mit He r bert auf den Äckern gearbeitet hat, schuften die beiden von früh bis spät. Über ihnen spannt sich ein stahlgrauer, wolkenve r hangener Herbsthimmel, der Wind peitscht ihnen in die e r schöpften Gesichter und zeichnet tiefe Furchen in ihre Haut. Es muss ein kraftraubendes, ermüdendes Leben sein, und doch höre ich niemals, dass sie sich beklagen. Vie l leicht liegt es daran, dass sie an harte Arbeit gewöhnt sind und sie ihnen leichter von der Hand geht, als es bei j e mandem wie mir der Fall wäre, aber ich glaube nicht, dass es nur daran liegt. Ich denke, es sind ihr e ruhige n Gemüt er und ihr stilles, tiefes Ve r trauen in Gott, das s ie die harte Zeit auf den Äckern durc h stehen lassen.
    Am Abend helfe ich Georgette beim Kochen, obwohl sie zuerst darauf besteht, dass ich mich wieder ins Bett lege und sie die Arbeit erledigen lasse. Nur durch Entschlossenheit g e lingt es mir, sie zu überreden, mich zumindest die Kartoffeln schälen und das Gemüse für den Eintopf schneiden zu la s sen. Wir arbeiten stillschweigend, doch das Schweigen ist nicht u n angenehm, sondern zeugt von konzentrierter, einträchtiger Arbeit. Nur die hackenden Geräusche meines Messers auf dem Schneidebrett durchbrechen die Stille. In der Küche ist es warm und lauschig; im Ofen brennt ein Feuer, aus den Töpfen auf dem Herd dringen köstliche Gerüche.
    Als wir schließlich an dem winzigen Esstisch in dem Zi m mer, das sowohl Aufenthaltsraum als auch Esszimmer ist und in dem ich die letzten drei Nächte verbracht

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