Léonide (German Edition)
höre das Flattern von dicken Insektenkö r pern mit Totenköpfen auf den staubigen Flügeln; ich höre, wie jemand in einem der Häuser im Zentrum des Dorfes eine Kerze ausbläst; in weiter Ferne höre ich sogar den Regen, der von Les Baux aus weitergezogen ist.
Wohin soll ich mich wenden? Das Dorf liegt schlafend, le b los vor mir. Ich bin lange im Wald gewesen und habe nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Irgendwo höre ich eine Glocke Mitternacht schlagen.
Leise gehe ich durch die schmalen Gassen, auf der Suche nach einem brennenden Licht oder dem Schild eines Gasthofs. Meine Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit rächt sich bitter; wenn ich keinen Unterschlupf finde, werde ich mir einen tr o ckenen Hauseingang suchen und auf den anbrechenden Mo r gen warten müssen.
Als ich die Hoffnung gerade aufgegeben und mein Gepäck für einen Augenblick abgestellt habe, um mich auszuruhen, höre ich Schritte. Sie kommen durch die Gasse näher. O h ne jeden Zweifel die entschlossenen Schritte eines Mannes.
Ich weiche in ein en Hauseingang zurück und schließe die Augen. Mach, dass er mich nicht sieht. Mach, dass er vorbe i geht. Ich fürchte, dass der Fremde das fiebrige Glühen meines Körpers wahrnimmt, wenn mich zuvor nicht mein flacher Atem verrät. Für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, ob es besser wäre, wegzulaufen. Aber dazu habe ich nicht mehr die Kraft, ich würde stolpern und hinfallen. Also warte ich. Warte und hoffe, dass er mich nicht bemerkt. Mit der Spitze meines Sti e fels schiebe ich mein Gepäck tiefer in den Hau s eingang; meine Handflächen pressen sich gegen das raue Holz der Tür.
Als der Fremde den Hauseingang passiert, setzt mein Herz für mehrere Schläge aus. Ein schwarzer Mantel, dunkel gefi e derte Schwingen, ein Paar gletscherblauer Augen, das mich anfunkelt. Ich spüre, dass ich mich bewege und den Mund öffne, höre ein Wispern in der Stille verhallen. In der Luft ist ein Rauschen wie von Flügeln, und dann ist da nur noch ein Gefühl freien Falles, Schwärze, Stille.
Ich träume von einer Höhle, weit am Rande von Les Baux – versteckt vor der Außenwelt, tief im weißen Kalksteinland. In meinem Traum ist es tiefster Sommer, die Sonne schwelt als weißer Ball am Himmel, die Landschaft liegt still in der Hitze. Die Zypressen und Pinien ächzen vor Erschöpfung, die ve r trockneten Gräser erfreuen sich an dem stürmischen Wind. Zikaden und silbergrüne Eidechsen, die zwischen Steinen und verfallenem Mauerwerk Schutz suchen, zarte Körper auf brennend heißem Fels. Unter einem müden Busch liegt eine Katze, die ebenfalls vor der Gluthitze Zuflucht genommen hat. Als sie mich sieht, steht sie auf, gähnt und macht einen Buckel; dann stolziert sie an mir vorbei, um sich ein ungestö r teres Plätzchen zu suchen.
Die Piniennadeln, die die rissige Erde bedecken, brechen bei jedem meiner Schritte. Die Sonne lässt meine Gedanken e r lahmen, ein merkwürdiges Gefühl – wach und dennoch im Halbschlaf, unfähig, zu denken oder sich auch nur mehr als notwendig zu bewegen.
Dennoch zieht mich irgendetwas zu der Höhle, deren Öf f nung versteckt zwischen zwei Felserhebungen liegt. Träge taste ich mich mit den Füßen über die scharfen Kanten und Zacken der Felsen voran, bis ich im Schatten des Höhleneingangs st e he. Mir weht ein Geruch von Asche, Holz und Lavendel en t gegen. Der Stein ist feucht und kühl.
Sonnenstrahlen leuchten ins Innere der Höhle, wo sie sich verlieren. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Höhle bis vor K urzem bewohnt worden ist oder noch bewohnt wird. Ich erkenne die Reste eines Feuers und einen Haufen Feuerholz. An einer Stelle nahe der Höhlenwand hat jemand Piniennadeln auf dem Steinboden verstreut, vermutlich als Schlafplatz.
»Ist jemand hier?« Ich gehe noch ein paar Schritte, bis ich selbst in die schattigsten Winkel der Höhle sehen kann. Es ist ni e mand hier, dennoch fühle ich mich wie ein Eindringling, der ungebeten einen fremden Lebensbereich betritt.
Aus welchem Grund bin ich hier? Warum hat man mich hergebracht?
Ich taste mich vorwärts, bis ich mich an das schwache Licht gewöhnt habe. Die Luft ist erstaunlich kühl, ganz anders als die stickige, erhitze Luft draußen vor der Höhle. Ich spüre, wie meine Gedanken klarer werden. Erschöpft setze ich mich auf den Höhlenboden, lehne d en Kopf gegen die Wand und schließe die Augen.
Als ich wieder aufwache, weiß ich nicht, wie lange ich g e schlafen habe. Ob ich
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