Léonide (German Edition)
überhaupt geschlafen habe. Einerseits scheinen nur Sekunden vergangen zu sein, in denen ich nichts außer meinem eigenen Atem wahrgenommen habe; andere r seits verrät das blutrote, schwächer werdende Licht vor der Höhle, dass es draußen bereits dämmert. Mein Nacken fühlt sich steif an – ein weiteres Indiz, dass ich bereits eine ganze Weile reglos oder schlafend auf dem Höhlenboden ka u ere. Mit steifen Gliedern richte ich mich auf und strecke mich.
»Ah, du bist wach.«
Ich drehe d en Kopf in die Richtung, aus der die Stimme g e kommen ist, kann in den sich verdichtenden Schatten j e doch niemanden erkennen.
»Wer ist da?« Ich verenge die Augen zu Schlitzen und runzle die Stirn. Kenne ich sie nicht, diese Stimme? Doch, das tue ich, ganz sicher – es ist eine Stimme aus meiner Vergange n heit. Die Tatsache, dass sie mir bereits so fremd g e worden ist, dass ich mich nicht sofort an die Person erinnern kann, der sie gehört hat – jene Person, die einmal der wichtig s te Mensch in meinem Leben war –, macht mir Angst.
»Willem?«
Der Fremde tritt aus dem Schatten, doch es ist nicht mein Bruder. Das begreife ich sofort, auch wenn der Verband, der eines seiner Augen bedeckt, das Gegenteil zu bezeugen scheint. Dennoch – er ist es nicht. Seine Körperhaltung ist mir vertraut, aber sie ist kein Teil von ihm, genauso wenig wie sein kaltes, blaues Auge, seine ungewöhnlich vollen Lippen oder das Haar, das ihm dunkel in die Stirn hängt.
Es dauert mehrere Sekunden, bis ich begreife.
Er ist niemand, den ich kenne. Er ist drei Menschen – ein Mischwesen. Er hat Willems Stimme und trägt einen Verband um sein Auge; er hat Costantinis stechenden Blick; vor allem aber hat er Frédérics Körper und dessen schmales, schönes, immer ein wenig besorgtes Gesicht.
Frédéric . Obwohl ich weiß, dass ich träume und dass der Fremde nicht oder zumindest nicht nur Frédéric ist, mache ich einen Schritt auf ihn zu. Seine kalten Augen jagen mir keine Angst ein, genauso wenig wie sein sturmumtostes Auge. Ich sinke in seine Arme, spüre, wie sein Körper mich umfängt, ehe er mich mit sich zieht und wir in die Dunkelheit fallen, verl o ren und frei.
Du hast Schmerzen. Obwohl du dich weder im Bett hin und her wälzt noch schreist, finden sie einen Weg, auf sich aufmerksam zu machen. Deine Augenlider zucken, deine Lippen sind geöffnet, auf deiner Stirn glänzt der Schweiß. Selbst im Schlaf wirkst du ausgebrannt. Deine Träume spiegeln sich auf deiner Stirn wider, zerstörte Hoffnungen, une r reichte Ziele. In Gedanken besuchst du die Höhle, ohne zu bemerken, dass sie voller Augen ist … Augäpfel, die im Gestein sitzen, als wären sie dort festgewachsen, die um sich selbst kreisen und dich beobachten mit ihrer starren Iris, weder lebendig noch tot. Geister und Gestalten, die einst Menschen waren und sich im Unglück für andere aufgeopfert haben. Sie wurden zu Stein, ihre Stimmen verhallten als Echo in den Tiefen des abgeschiedenen Ortes, seitdem sind sie hier, und außer ihren Augen – ihren Seelen – ist nichts von ihnen übrig geblieben . Gefangen in einer Zwischenwelt, weder der Vergangenheit noch der Gegenwart zugehörig, warten sie auf die Zukunft und begreifen nicht, dass sie u m sonst warten. Klammern sich an Hoffnungen und Träume, die genau das bleiben we r den, für immer. Ihr Wesen, ihr Sein – nichts als seufzende Echos in der Finsternis. Die Zukunft hat sie vergessen.
Man nennt den Ort La G rotte des É chos . Die Höhle der Echos.
Der Schmerz blendet mich, ich kann nichts anderes tun, als zu verharren und darauf zu warten, dass es aufhört. Ich habe das Gefühl, in der prallen Sonne auf einer kargen Ebene zu stehen und langsam auszutrocknen. Solche Schmerzen, dieses Bre n nen auf der Haut und das Pochen meiner Gedanken, die g e gen meine Schädeldecke pochen, als wollten sie ausbrechen …
Dennoch fühlt sich mein Körper an wie gelähmt. Ich kann mich nicht rühren. Meine Lippen kleben rau und spröde ane i nander – sandig. ich versuche, die Finger zu krümmen o der den Mund zu öffnen, irgendeinen Weg aus der Hitze zu fi n den. Zu spät begreife ich, dass ich in eine Sackgasse geraten bin.
Immer wieder falle ich in die Dunkelheit zurück; dann e r lischt der Schmerz, wird von einer Welle aus Abgestumpftheit fortgespült. Es ist, als existierten Körper und Seele getrennt voneinander, an unterschiedlichen Orten, in verschiedenen Zeitsphären. Dann wieder tauche ich auf, durchbreche
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