Leopard
nun hierher gefahren haben?«, sagte sie und hörte, dass auch ihre Stimme verändert klang.
»Verdammt, das haben sie nicht. Sie haben mich nämlich angerufen und mir erzählt, dass sie ihn irgendwo oben auf einen Berg kutschiert haben, weil er da jemand besuchen wollte. Im Reichshospital. Sie haben versucht, ihn davon abzuhalten, aber er ist einfach vor einer roten Ampel aus dem Wagen gesprungen und abgehauen. Ich mag den Kaffee stark, okay?«
Seine Augen funkelten so intensiv wie Evens, wenn es ihm nicht gutging.
»Aslak, gehen Sie jetzt bitte. Im Kirkeveien stehen Taxis.«
Seine Hand schoss nach vorne, ehe sie reagieren konnte. Er packte sie am Arm und schob sie in den Flur. Sie versuchte, sich zu befreien, aber er schlang den Arm um sie und hielt sie fest.
»Bist du genau wie sie?«, zischte seine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Dich verziehen, abhauen? So wie ihr alle, verdammte …« Sie stöhnte und wand sich, aber er war zu stark. »Kaja!«
Die Stimme kam aus dem Schlafzimmer, dessen Tür offen stand. Eine resolute, autoritäre Männerstimme, die Krongli unter anderen Umständen sicher wiedererkannt hätte. Schließlich hatte er sie erst vor gut einer Stunde im Kriminalamt gehört.
»Was geht da vor, Kaja?«
Krongli hatte bereits losgelassen und starrte sie mit großen Augen an. Sein Mund stand offen.
»Nichts«, sagte Kaja, ohne Krongli aus den Augen zu lassen. »Bloß ein besoffener Bauer aus Ustaoset, der gerade gehen will.«
Krongli trat stumm den Rückzug an, öffnete die Tür, schlüpfte hinaus und schlug sie hinter sich zu. Kaja schloss eilig ab und legte die Stirn an das kalte Holz. Am liebsten hätte sie geweint. Nicht aus Angst oder Schock, sondern aus Verzweiflung. Weil alles um sie herum einstürzte. Weil alles, was sie bis dahin für gut und richtig gehalten hatte, sich plötzlich in seinem wahren Licht zeigte. Vermutlich tat es das schon lange, aber sie hatte es nicht sehen wollen. Even hatte recht gehabt: Nichts ist, wie es scheint, und das meiste, sah man einmal von aufrichtigem Verrat ab, war Lüge und Betrug. Der Tag, an dem wir feststellen, dass wir auch nicht anders sind, ist der Tag, an dem wir nicht mehr leben wollen.
»Kommst du, Kaja?«
»Ja.«
Kaja stieß sich von der Tür ab, durch die sie am liebsten davongelaufen wäre, und ging zurück ins Schlafzimmer.
Das Mondlicht fiel durch den Gardinenspalt auf das Bett, die zur Feier des Tages mitgebrachte Champagnerflasche, seinen nackten, durchtrainierten Oberkörper und auf sein Gesicht, das für sie einmal das schönste auf der ganzen Welt gewesen war. Die weißen Pigmentflecken schimmerten wie phosphoreszierende Farbtupfer. Als würde er irgendwie von innen glühen.
KAPITEL 44
Der Anker
K aja blieb in der Tür des Schlafzimmers stehen und sah ihn an. Mikael Bellman. Für alle Übrigen ein tüchtiger, ambitionierter Kriminaloberkommissar, glücklich verheirateter Vater von drei Kindern und bald Leiter der Kripo gigantus, die alle Mordfälle des Landes bearbeitete. Für sie, Kaja Solness, hingegen ein Mann, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte und der sie nach allen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Kunst verführt hatte. Er hatte leichtes Spiel gehabt, aber das war nicht sein Fehler, sondern ihrer. Im Großen und Ganzen jedenfalls. Was hatte Harry gesagt? »Er ist verheiratet und hat gesagt, dass er deinetwegen Frau und Kinder verlassen will, was er aber nicht tut?« Volltreffer. Natürlich. So banal war der Mensch. Wir glauben, weil wir glauben wollen. An Götter, weil uns das die Angst vor dem Tod nimmt. An die Liebe, weil sie das Leben schöner macht. An das, was verheiratete Männer sagen, weil es das ist, was verheiratete Männer sagen.
Sie wusste, was Mikael sagen würde. Und dann sagte er es: »Ich muss bald nach Hause. Sie wundert sich sonst.«
»Ich weiß«, antwortete Kaja mit einem Seufzen und schluckte wie gewöhnlich die Frage hinunter, die ihr auf der Zunge lag: Warum bereiten wir ihrem Wundern nicht ein Ende?
Warum tust du nicht, was du mir schon so lange versprochen hast? An diesem Punkt allerdings meldete sich wie immer in letzter Zeit eine neue Frage: Und warum bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich das wirklich
will
?
Harry hielt sich am Geländer fest und zog sich die Treppe zur hämatologischen Abteilung des Reichshospitals hoch. Er war verschwitzt, fror, und seine Zähne klapperten wie ein Zweitaktmotor. Und er war voll. Mal wieder. Voll Jim Beam, voller Wut, voll von sich
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