Leopard
darum gebeten.«
Altman nickte langsam. »Damit erlegt man einem anderen Menschen eine schwere Bürde auf. Sind Sie deshalb jetzt gekommen? Um es hinter sich zu bringen?«
Harrys Blick hatte bereits den Raum nach etwas Alkoho lischem abgesucht. Jetzt machte er erneut die Runde. »Ich wollte um Verzeihung bitten. Weil ich ihm diesen Wunsch nicht erfüllen kann.«
»Dafür brauchen Sie keine Vergebung. Man kann von niemandem verlangen, dass er einem aus dem Leben hilft, ganz sicher nicht von seinem eigenen Sohn.«
Harry legte den Kopf in die Hände. Er fühlte sich hart und schwer wie eine Bowlingkugel an.
»Ich habe das schon einmal getan«, sagte er.
Altmans Stimme klang eher verwundert als schockiert: »Sterbehilfe geleistet?«
»Nein«, antwortete Harry. »Sie verwehrt. Meinem ärgsten Feind. Er hat eine unheilbare, tödliche und äußerst schmerzhafte Krankheit. Er wird langsam von seiner eigenen Haut erstickt.«
»Sklerodermie«, sagte Altman.
»Als ich ihn gefasst habe, hat er es darauf angelegt, dass ich ihn erschieße. Wir waren allein oben im Turm, nur er und ich. Er hatte eine unbekannte Anzahl Menschen getötet und mir und Menschen, die ich liebe, Verletzungen zugefügt. Bleibende Verletzungen. Ich habe mit dem Revolver auf ihn gezielt. Nur wir zwei waren da. Notwehr. Ich hätte ihn ohne jedes Risiko erschießen können.«
»Sie wollten aber lieber, dass er leidet«, sagte Altman. »Der Tod wäre ein zu leichter Ausweg gewesen.«
»Ja.«
»Und jetzt glauben Sie, Ihrem Vater das Gleiche zuzufügen, indem Sie ihn lieber leiden als sterben lassen.«
Harry rieb sich den Nacken. »Mir geht es nicht um Prinzipien wie die Unantastbarkeit des Lebens oder diesen Bullshit. Es ist blanke Schwäche. Feigheit. Verdammt, Sie haben nicht zufällig etwas zu trinken hier, Altman?«
Sigurd Altman schüttelte den Kopf. Harry war sich nicht sicher, ob das die Antwort auf seine Frage war oder die Reaktion auf das, was er davor gesagt hatte. Vielleicht beides.
»Sie können Ihre eigenen Gefühle nicht einfach so abwerten, Harry. Man setzt sich nicht so leicht über Werte wie Gut und Böse, die für Sie wie für uns alle gelten, hinweg. Ihrem Intellekt fehlen vielleicht die Argumente für diese Werte, aber trotzdem sind sie tief in Ihrem Innern verankert. Falsch und Richtig. Vielleicht wurde es Ihnen in der Kindheit von den Eltern vermittelt, vielleicht in Gestalt eines moralischen Märchens von der Großmutter vorgelesen, oder Sie haben in der Schule etwas erlebt, das sie als ungerecht empfunden und in Ihrem Inneren abgespeichert haben. Es ist die Summe all dieser fast vergessenen Sachen, die zählt.« Altman beugte sich vor.
»Tief in Ihrem Innern verankert
ist im Übrigen eine treffende Bezeichnung, denn das bedeutet, dass Sie den Anker vielleicht gar nicht mehr sehen und trotzdem nicht vom Fleck kommen. Er hält Sie an Ihrem Platz im Leben fest, das ist Ihr Zuhause. Versuchen Sie das zu akzeptieren, Harry. Akzeptieren Sie diesen Anker.«
Harry starrte auf seine eigenen gefalteten Hände. »Seine Schmerzen …«
»Physische Schmerzen sind nicht das Schlimmste für einen Menschen«, sagte Altman. »Glauben Sie mir, ich sehe das jeden Tag. Auch nicht der Tod oder die Furcht vor dem Tod.«
»Was dann?«
»Die Demütigung. Dass einem Ehre und Würde genommen werden. Man wird bloßgestellt, aus dem Rudel ausgestoßen. Das ist die schlimmste Strafe, lebendig begraben zu werden. Der einzige Trost ist, dass der Betreffende recht schnell zugrunde geht.«
»Hm.« Harry sah Altman lange an. »Haben Sie in dem Schrank vielleicht etwas, das die Stimmung ein wenig aufhellen könnte?«
KAPITEL 45
Verhör
M ikael Bellman hatte wieder vom freien Fall geträumt. Einem Alleingang am El Chorro. Er hatte den Halt verloren, die Felswand war vor seinen Augen vorbeigerast und der Boden immer schneller näher gekommen. Dann hatte der Wecker geklingelt. Gerade noch rechtzeitig.
Er wischte sich das Eigelb aus dem Mundwinkel und sah zu Ulla auf, die hinter ihm stand und ihm Kaffee eingoss. Sie hatte mit der Zeit gelernt, wann er mit dem Essen fertig war und dass er dann und keine Sekunde eher seinen Kaffee wollte, kochend heiß und in der blauen Tasse. Aber das war nur einer der Gründe, weshalb er sie so schätzte. Ein anderer war, dass sie sich so gut in Form hielt, dass sie bei den Empfängen, zu denen sie immer häufiger eingeladen wurden, noch immer die Blicke auf sich zog. Ulla war immerhin einmal die unbestrittene
Weitere Kostenlose Bücher