Leopard
man eine achtstündige Wache vor sich hatte, in der absolut nichts passieren würde. Einen Gang runterschalten, den Stoffwechsel dimmen, es wie die Aborigines machen: sich in einen trägen, abgekapselten Zustand versetzen, eine Art Wartemodus, in dem sie stundenlang, ja, tagelang verharren konnten, wenn es sein musste. Sie fragte sich, was diese langsamen Kaffeetrinker ausrichten wollten, falls wirklich etwas geschah.
»Tut mir leid«, sagte sie in den Telefonhörer und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu dämpfen, das von ihrer unterdrückten Wut herrührte. »Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, Charlottes Mörder zu finden, aber das kommt nicht in Frage.« Die Wut gewann doch die Oberhand. »Wie können Sie mich so etwas überhaupt fragen! Ich bin hier schon Lockvogel genug. Mich kriegen keine zehn Wildpferde noch einmal nach Norwegen. Sie sind der Polizist und werden dafür bezahlt, das Monster zu fangen, wieso stellen Sie sich nicht selber als Köder zur Verfügung?« Sie beendete das Gespräch und schleuderte den Hörer quer durchs Zimmer in den Sessel, aus dem die Katze erschrocken aufsprang und in die Küche flüchtete. Sie legte die Hände vors Gesicht und ließ den Tränen freien Lauf. Ach, Charlotte. Liebe, liebe, geliebte Charlotte.
Früher hatte sie nie Angst im Dunkeln gehabt, aber inzwischen dachte sie kaum noch an etwas anderes: Bald würde die Sonne untergehen, und dann kam die Nacht, gnadenlos, immer und immer wieder.
Das Telefon spielte die Anfangstöne von einem Antony-andthe-Johnsons-Song. Das Display auf dem Sesselkissen blinkte. Sie stand auf, sah nach, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Die Nummer des Anrufers begann mit +47. Schon wieder Norwegen.
Sie hob den Hörer ans Ohr.
»Ja?«
»Ich bin es noch mal.«
Sie seufzte erleichtert. Es war nur der Polizist.
»Eine Frage noch. Wenn Sie nicht persönlich hierherkommen wollen, dürfen wir dann wenigstens Ihren Namen verwenden?«
Kaja studierte den Mann, der seinen Kopf an die Brust der rothaarigen Frau gelegt hatte, die ihr Gesicht zu seinem Nacken herunterbeugte.
»Was siehst du?«, fragte Mikael. Seine Stimme hallte zwischen den Museumswänden wider.
»Sie küsst ihn«, sagte Kaja und trat einen Schritt näher an das Bild heran. »Vielleicht tröstet sie ihn auch.«
»Sie beißt ihn und saugt ihm das Blut aus«, sagte Mikael. »Wieso glaubst du das?«
»Weil Münch das Bild ›Vampir‹ genannt hat. Alles klar?«
»Ja. Ich fahre in einer Stunde mit dem Zug nach Ustaoset.«
»Wieso wolltest du mich hier treffen?«
Kaja holte tief Luft. »Um dir zu sagen, dass wir uns nicht mehr treffen können.«
Mikael wippte auf den Füßen. »Liebe und Schmerz.«
»Was?«
»Das war der ursprüngliche Name des Bildes. Harry hat dich in die Details unseres Plans eingeweiht?«
»Ja. Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Danke, Solness, ich höre ausgezeichnet. Wenn ich mich nicht irre, hast du das schon des Öfteren gesagt. Ich schlage vor, du überlegst dir das noch mal.«
»Ich habe lange genug überlegt, Mikael.«
Er strich sich mit einer Hand über den Krawattenknoten. »Warst du mit ihm zusammen?« Sie zuckte leicht. »Mit wem?« Bellman lachte leise.
Kaja blickte ihm nicht nach. Sie hatte ihren Blick fest auf das Gesicht der Frau geheftet, während sich die Schritte entfernten.
Licht sickerte durch ein paar graue Stahljalousien. Harry wärmte sich die Hände an einem Kaffeebecher mit dem blauen Schriftzug des Kriminalamts auf weißem Untergrund. Das Sitzungszimmer war dem der Mordabteilung, in dem er so viele Stunden seines Lebens verbracht hatte, zum Verwechseln ähnlich. Hell, teuer und trotzdem spartanisch auf eine nüchtern moderne Art, die keinem Minimalismus geschuldet war, sondern bloß einer gewissen Seelenlosigkeit. Ein Raum, der zur Effektivität aufforderte, um von ihm aus in die Hölle abtauchen zu können.
Die acht Personen im Sitzungszimmer gehörten laut Bellman zum inneren Kern der Ermittlungsgruppe. Harry kannte nur zwei von ihnen: Björn Holm und eine robuste, bodenständige, nicht sonderlich phantasievolle Ermittlerin mit dem Spitznamen Pelikan, die früher mal im Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet hatte. Bellman hatte Harry alle kurz vorgestellt, inklusive Erdal, einem Mann mit Hornbrille und einem braunen Anzug, dessen Schnitt an die Sowjetzeit erinnerte. Er saß etwas abseits am unteren Tischende und reinigte sich mit einem Schweizer Messer die Fingernägel. Harry tippte auf eine
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