Leopard
Gläschen in Ehren?«
»Guck doch mal beim Alten vorbei und sag hallo, solange er noch atmet, wie wär's.«
0ystein schüttelte sich. »Krankenhäuser machen mich krank. Außerdem kriegt er doch gar nichts mehr mit, oder?«
»Ich hab dabei eigentlich weniger an ihn gedacht, 0ystein.«
0ystein kniff die Augen vor dem Rauch zusammen. »Das bisschen Erziehung, das ich mitbekommen habe, hab ich von deinem Vater, Harry. Weißt du das? Mein eigener Vater ist keinen Fliegenschiss wert. Ich fahr morgen bei ihm vorbei, ja.«
»Freut mich für dich.«
Er starrte den Mann an, der vor ihm stand. Sah, wie seine Lippen sich bewegten, hörte die Worte, die aus seinem Mund kamen, aber irgendetwas schien beschädigt worden zu sein, er konnte sie zu nichts Vernünftigem zusammensetzen. Er verstand nur, dass die Zeit reif war. Reif für die Rache. Für die Abrechnung. Und irgendwie war das eine Erleichterung. Er saß auf dem Boden, mit dem Rücken an dem großen, runden Eisenofen. Seine Arme waren nach hinten um den Ofen gebogen und die Handgelenke mit zwei Skiriemen zusammengebunden. Immer wieder musste er sich übergeben, bestimmt wegen der Gehirnerschütterung. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten, und das Gefühl kehrte langsam in seinen Körper zurück, aber vor seinen Augen hing ein Nebelschleier, der sich nur für kurze Augenblicke lichtete. Trotzdem zweifelte er keine Sekunde. Die Stimme. Das war die Stimme eines Geistes.
»Du wirst bald sterben«, flüsterte sie. »Genau wie sie. Aber du hast die Wahl. Du darfst entscheiden, wie. Es gibt aber nur zwei Alternativen. Leopoldsapfel …«
Der Mann hielt ihm eine mit Löchern perforierte Metallkugel vors Gesicht, aus der eine Metallschnur baumelte.
»Drei der Mädels haben ihn zu schmecken bekommen. Keiner von ihnen hat er besonders gemundet. Aber er ist die schmerzfreiere und schnellere Variante. Als Gegenleistung dafür verlange ich, dass du auf meine Fragen antwortest. Wieso? Und wer weiß noch davon? Mit wem arbeitest du zusammen? An deiner Stelle würde ich den Apfel wählen, die andere Variante hast du ja als intelligenter Mann bestimmt längst erraten …«
Der Mann stand auf, schlug zweimal übertrieben langsam die Arme um seinen Oberkörper und grinste breit. Nur das Flüstern unterbrach die Stille:
»Ein bisschen kalt hier drinnen, findest du nicht?«
Er hörte ein Ratschen, gefolgt von einem leisen Zischen, und starrte das Streichholz an. Die kräftige gelbe, tulpenförmige Flamme.
KAPITEL 55
Türkis
D er Abend senkte sich herab, sternenklar und bitterkalt.
Harry parkte den Wagen an der Steigung vor der Adresse am Voksenkollen. In der Straße ansehnlicher, kostspieliger Villen fiel diese besonders ins Auge. Das Gebäude war wie aus einem Volksmärchen, ein Königshof aus schwarzgeteertem Holz, mit überdimensionierten Holzsäulen am Eingang und Gras auf dem Dach. Um den Hofplatz herum standen zwei weitere Gebäude sowie die Disney-Ausgabe eines historischen Vorratsspeichers. Harry bezweifelte, dass Schiffsreeder Anders Galtungs Kühlschrank nicht groß genug war.
Harry klingelte an der Pforte, entdeckte eine Kamera auf der Mauer und sagte seinen Namen, nachdem ihn eine Frauenstimme dazu aufgefordert hatte. Er ging eine flutlichtbeleuchtete Kieseinfahrt hinauf, und jeder Schritt hörte sich an, als würde der Kies gierig an den Überresten seiner schiefgelaufenen Stiefelsohlen nagen.
Eine Frau mittleren Alters mit Schürze und türkisfarbenen Augen empfing ihn an der Tür und begleitete ihn in ein menschenleeres Wohnzimmer. Sie tat das in einer so vollendeten Mischung aus Würde, Arroganz und professioneller Freundlichkeit, dass er selbst, als sie ihn mit einem »Kaffee oder Tee?« zurückließ, noch unsicher war, ob er es mit Frau Galtung, der Haushälterin oder sowohl als auch zu tun gehabt hatte.
Als die Abenteurer aus aller Welt nach Norwegen kamen, gab es noch keine Könige und auch noch keinen Adel, weswegen die Könige in norwegischen Darstellungen immer als Großbauern mit Hermelin erscheinen. Genau dieser Anblick bot sich Harry, als Anders Galtung das Wohnzimmer betrat: ein fetter, freundlich lächelnder, still vor sich hin schwitzender Großbauer mit Strickjacke. Nachdem er Harry die Hand geschüttelt hatte, wich sein Lächeln einer besorgten Miene, die der Situation angemessener war. Seine Frage wurde von einem schweren Schnaufen begleitet: »Was Neues?«
»Nichts, fürchte ich.«
»Wenn ich meine Tochter richtig verstanden habe, scheint
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