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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Gelegenheiten, bei denen ihn seine Intuition auf etwas gestoßen hatte, von dem er zuvor nicht geahnt hatte, dass er es bereits wusste. Jedenfalls sagte ihm seine Intuition, dass der Täter auf dem Weg zur Hävasshütte war. Harry sah noch einmal auf die Uhr. Sie hatten ihm zwanzig Stunden gegeben. Das Kiefernholz knackte und knisterte hinter dem feinmaschigen Drahtnetz vor dem überdimensionalen Kamin. Kaja hatte sich in einem Schlafraum etwas hingelegt, während Kolkka am Tisch im Wohnraum saß und seine demontierte Weilert PI 1 ölte. Harry erkannte die deutsche Waffe an dem fehlenden Korn. Die Weilert-Pistolen waren reine Nahkampfwaffen. Man musste sie schnell aus dem Halfter, dem Gürtel oder dem Hosenbund ziehen können, und mit einem glatten Lauf war das Risiko, sich irgendwo zu verhaken, geringer. In solchen Situationen war das Zielkorn ohnehin überflüssig; man richtete die Waffe auf das Objekt und schoss, man
zielte
nicht. Die Reservepistole, eine SIG Sauer, lag montiert und geladen daneben. Harry spürte das Schulterhalfter seiner eigenen Smith & Wesson .38 an der Haut über seinen Rippen scheuern.
    Sie waren in der Nacht mit dem Helikopter ein paar Kilometer entfernt am Neddalsvannet gelandet und von dort aus per Ski zur Hütte gelaufen. Unter anderen Umständen hätte Harry vielleicht die Schönheit der schneebedeckten Vidda im Mondlicht zu schätzen gewusst und die Polarlichter bewundert, die über den Himmel zuckten. Oder Kajas beinahe seligen Gesichtsausdruck bemerkt, als sie wie durch ein Märchen durch die weiße Stille glitten, in der es so vollkommen ruhig war, dass Harry geglaubt hatte, das Gleiten der Skier müsse kilometerweit zu hören sein. Aber es stand zu viel auf dem Spiel für ihn, als dass er das alles hätte genießen können, er konnte es sich nicht leisten, etwas zu übersehen, so dass er nur Augen für die Arbeit, die Jagd gehabt hatte.
    Harry selbst war es gewesen, der Kolkka in die Rolle des begleitenden Ermittlers gedrängt hatte. Nicht weil er den Vorfall im Justisen vergessen hatte, sondern weil er sich ausgerechnet hatte, dass ihnen – sollte nicht alles nach Plan laufen – die Nahkampferfahrung des Finnen von Nutzen sein konnte. Er hoffte, dass der Täter es tagsüber versuchen würde und von einer der Gruppen überwältigt wurde, die draußen im Schnee lauerten. Doch wenn er nachts kam und erst entdeckt wurde, wenn er vor der Hütte stand, mussten die drei die Situation allein meistern.
    Kaja und Kolkka schliefen in verschiedenen Schlafräumen, Harry in der Stube. Der Morgen war ohne viel unnötiges Gerede über die Bühne gegangen, sogar Kaja war still gewesen. Konzentriert.
    Im Spiegelbild des Fensters sah er Kolkka die Waffe zusammensetzen, sie anheben, auf seinen Hinterkopf zielen und einen trockenen Schuss abfeuern. Harry hoffte, dass der Täter sich beeilte.
    Als Björn Holm die hellblaue Krankenhauskleidung aus Adeles Garderobenschrank nahm, spürte er Geir Bruuns Blick im Rücken. Er stand in der Tür.
    »Können Sie nicht gleich alles mitnehmen?«, fragte Bruun. »Dann muss ich das nicht wegwerfen. Wo ist eigentlich Ihr Kollege, dieser Harry?«
    »Der ist auf einer Skitour in den Bergen«, sagte Holm geduldig und steckte jedes Kleidungsstück separat in die dafür vorgesehenen Plastiktüten.
    »Ach ja? Interessant, er hat auf mich gar nicht wie ein Skifahrer gewirkt. Wo ist er denn?«
    »Das kann ich nicht sagen. Apropos Ski, wissen Sie noch, was Adele getragen hat, als sie in der Hävasshütte war? Ich kann hier gar keine Skiklamotten entdecken.«
    »Die hat sie sich natürlich von mir geliehen.«
    »Sie hat sich die Kleider von Ihnen geliehen?«
    »Warum überrascht Sie das?«
    »Sie wirken auf mich gar nicht wie ein … Skifahrer.« Holm bemerkte, dass sich seine Worte tendenziöser anhörten als beabsichtigt. Sein Nacken wurde heiß.
    Bruun lachte leise und machte im Türrahmen so etwas wie Tanzschritte. »Richtig, ich bin eher ein … Kleidermensch.«
    Holm räusperte sich und gab seiner Stimme – ohne dass er wusste, warum – einen tieferen Klang. »Darf ich mal einen Blick darauf werfen?«
    »Uih, ja, also«, lispelte Bruun und schien sich über Holms sichtliches Unbehagen zu amüsieren. »Kommen Sie, dann schauen wir mal.«
    »Halb fünf«, sagte Kaja und reichte Harry zum zweiten Mal den Topf mit Labskaus. Ihre Hände berührten sich nicht. Ebenso wenig ihre Blicke oder Worte. Ihre gemeinsame Nacht in Oppsal war so fern wie ein zwei Tage alter Traum.

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