Leopard
»Laut Drehbuch sollte ich jetzt auf der Südseite der Hütte stehen und eine Zigarette rauchen.«
Harry nickte und reichte den Topf an Kolkka weiter, der ihn auskratzte und dann begann, seinen Teller leer zu schaufeln.
»Okay«, sagte Harry. »Kolkka, gehen Sie ans Westfenster? Die Sonne steht jetzt tief, halten Sie nach Lichtreflexen Ausschau, in Ferngläsern zum Beispiel.«
»Erst wenn ich gegessen habe«, sagte Kolkka langsam und mit Nachdruck und schob sich noch eine vollbeladene Gabel in den Mund.
Harry zog die Augenbrauen hoch, blickte zu Kaja und signalisierte ihr zu gehen. Als sie draußen vor der Tür war, setzte Harry sich ans Fenster und ließ seinen Blick über die Vidda und den Bergkamm schweifen. »Dann hat Bellman Sie also angestellt, weil niemand sonst Sie haben wollte?« Er sprach leise, aber die Stille im Raum war so kompakt, dass er ebenso gut hätte flüstern können.
Ein paar Sekunden vergingen ohne Antwort. Harry vermutete, dass Kolkka erst einmal verdauen musste, auf so etwas Persönliches von Harry angesprochen zu werden.
»Ich weiß, welches Gerücht die Runde machte, nachdem Sie bei Europol rausgeflogen sind. Sie sollen während eines Verhörs einen vorbestraften Vergewaltiger zusammengeschlagen haben. Das ist doch richtig, oder?«
»Das ist meine Sache«, brummte Kolkka und führte die Gabel zum Mund. »Kann aber schon stimmen, dass er mir nicht den angemessenen Respekt gezollt hat.«
»Hm. Das Interessante ist nur, dass Europol dieses Gerücht selbst in Umlauf gebracht hat. Um freie Hand zu haben, und sicher auch zu Ihrem Schutz, nehme ich an. Und natürlich ist das so auch besser für die Eltern und den Anwalt des Mädchens, das Sie verhört haben.«
Harry hörte, dass Kolkka zu kauen aufhörte.
»So konnte man ihnen still und heimlich eine Entschädigung zahlen, ohne Europol vor den Kadi zu zerren. Und auch dem Mädchen blieb es so erspart, im Zeugenstand bis ins kleinste Detail darüber zu berichten, wie es war, als Sie sie in ihrem Zimmer über ihre vergewaltigte Freundin befragt haben. Die Antworten des Mädchens haben Sie so erregt, dass Sie begonnen haben, sie anzufassen. Laut Europols internen Notizen war sie erst fünfzehn Jahre alt.«
Harry hörte Kolkka schwer atmen.
»Gehen wir mal davon aus, dass Bellman diese Notizen kannte«, fuhr Harry fort. »Er kann sie sich über Kontaktpersonen und gewisse Umwege beschafft haben. Wie ich. Vermutlich hat er eine Weile gewartet, bevor er mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat. Bis Ihre Wut verflogen und Sie wieder auf dem Boden waren. Und dann hat er Sie ins Boot geholt. Ihnen einen Job gegeben und ein bisschen des Stolzes, den Sie verloren hatten. Er wird gewusst haben, dass Sie ihm das mit Loyalität zurückzahlen. Er kauft ein, wenn der Marktwert im Keller ist. So suchte er sich seine Bodyguards zusammen.«
Harry drehte sich zu Jussi Kolkka um. Das Gesicht des Finnen war kreideweiß.
»Sie sind gekauft, werden aber schlecht bezahlt, Jussi. Sklaven wie Sie können keinen Respekt erwarten, nicht von Massa Bellman und auch nicht von mir. Verdammt, Mann, Sie haben ja nicht einmal Respekt vor sich selbst.«
Kolkkas Gabel fiel mit einem beinahe ohrenbetäubenden Klirren auf den Teller. Er stand auf, fuhr sich mit der Hand unter die Jacke und zog seine Pistole. Er ging auf Harry zu und beugte sich über ihn. Harry rührte sich nicht, sah bloß seelenruhig zu ihm auf.
»Wollen Sie so Ihre Selbstachtung wiederfinden, Jussi? Indem Sie mich erschießen?«
Die Pupillen des Finnen zuckten vor Wut.
»Oder indem Sie verdammt noch mal Ihren Job machen?« Harry blickte wieder nach draußen über die Vidda.
Hörte Kolkkas schweren Atem. Wartete. Hörte, wie er sich umdrehte, wegging und sich ans westliche Fenster setzte.
Das Funkgerät krächzte. Harry griff danach.
»Ja?«
»Es wird bald dunkel.« Das war Bellmans Stimme. »Er kommt nicht.«
»Haltet weiter Ausschau.«
»Wonach denn? Es sind Wolken aufgezogen, und ohne Mondlicht werden wir nichts sehen …«
»Wenn wir nichts sehen, sieht er auch nichts«, sagte Harry. »Dann müsst ihr nach dem Licht einer Stirnlampe suchen.«
Der Mann hatte die Stirnlampe ausgeschaltet. Er brauchte kein Licht, er wusste genau, dass die Skispur ihn zur Touristenhütte führte. Außerdem musste er sich an das Dunkel gewöhnen, damit er große, lichtempfindliche Pupillen hatte, bis er dort war.
Plötzlich stand die schwarze Holzwand mit den dunklen Fenstern vor ihm. Als wäre niemand da. Der
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