Leopard
das dickere Ende zeigte nach unten, dort hinein steckte Harry den Lauf der Pistole. Gut zwei Drittel verschwanden im Stab, bis die Waffe stecken blieb. Nun befand sich der Lauf parallel zum Stab, ein anderthalb Meter langer Schalldämpfer. Eine Kugel würde sicher nicht durch viel mehr als weitere anderthalb Meter im Schnee dringen, aber was, wenn nur
ein kleines Stück
bis ins Freie fehlte?
Er stemmte sich von unten gegen die Pistole, damit sie durch den Rückstoß nicht verrutschte und die Kugel zur Seite abwich. Dann zog er ab. Und noch einmal, und noch einmal. Es zerriss ihm fast das Trommelfell in dem hermetisch abgeriegelten Raum. Nach vier Schüssen hielt er inne, legte die Lippen an die Öffnung des Stabes und saugte.
Luft … Luft.
Seine Überraschung war so groß, dass er fast gefallen wäre. Dann atmete er wieder durch den Stab, vorsichtig, damit der Tunnel, den die Kugeln in den Schnee gegraben haben mussten, nicht einbrach. Der eine oder andere Schneekristall rieselte durch den Stab und legte sich auf seine Zunge. Es schmeckte wie runder, milder Whiskey mit Eis.
KAPITEL 60
Wichtel und Zwerge
R oger Gjendem lief die Karl Johans gate hoch, während die Geschäfte gerade öffneten. Auf dem Egertorget blickte er auf, die rote Freia-Uhr zeigte drei Minuten vor zehn. Er legte einen Gang zu.
Bent Nordbo, pensionierter und in vielerlei Hinsicht legendärer Chefredakteur, gegenwärtig Mitglied des Vorstands und Tempelwächter, hatte ihn zu einer Eilsitzung einberufen.
Gjendem bog nach rechts in die Akersgata ab, in der sich die großen Zeitungshäuser gedrängt hatten, als die Papierausgabe noch der unbestrittene Gipfel des Journalismusberges war. Dann ging er nach links in Richtung Tinghuset, um gleich darauf wieder nach rechts in die Apotekergata abzubiegen, wo er ganz außer Atem das Stopp Pressen! betrat. Irgendwie schien sich diese Kneipe nicht entscheiden zu können, ob sie eher eine Sportbar oder ein traditioneller englischer Pub sein wollte. Vielleicht war das Absicht, da sie sich zum Ziel gesetzt hatte, dass sich hier alle Arten von Journalisten wohl fühlen sollten. Die Pressefotos an den Wänden zeigten, was die Nation in den letzten zwanzig Jahren beschäftigt, erschüttert, erfreut und empört hatte. Vorwiegend Sportereignisse, Prominente und Naturkatastrophen. Sowie ein paar Politiker, die man aber genauso gut den letzten beiden Kategorien zuordnen konnte.
Der Pub lag in unmittelbarer Nähe der beiden noch verbliebenen Zeitungen in der Akersgata -
VG
und
Dagbladet
- und fungierte beinahe als eine Art Kantine dieser beiden Häuser, trotzdem hielten sich vorläufig nur zwei Personen im Gastraum auf. Der Barkeeper hinter dem Tresen und ein Mann an einem Tisch im hinteren Teil des Lokals. Über ihm hing ein Regal mit Gyldendal-Klassikern und einem alten Radio, das dem Ort vermutlich eine gewisse Patina verleihen sollte.
Dieser Mann war Bent Nordbo. Er hatte John Gielguds arrogantes Aussehen, John Majors Panoramabrille und Larry Kings Hosenträger. Und er las eine echte Zeitung, ein gedrucktes Exemplar. Roger hatte gehört, dass Nordbo lediglich die
New York Times,
die
Financial Times,
den
Guardian,
die
China Daily,
die
Süddeutsche Zeitung, El Pais
und
Le Monde
las, diese dafür aber jeden Tag. Manchmal brach er auch mit dieser Gewohnheit und warf zusätzlich noch einen Blick in die
Prawda
oder die slowenische
Dnevnik,
betonte aber, dass die osteuropäischen Sprachen mühsam für die Augen seien.
Gjendem blieb vor dem Tisch stehen und räusperte sich. Bent Nordbo las die letzten Zeilen eines Artikels über die Revitalisierung eines ehemals baufälligen Teils der Bronx durch mexikanische Einwanderer zu Ende und warf dann noch einen kurzen Blick auf die nächste Seite, um sich zu vergewissern, dass sich dort nicht noch ein interessanter Artikel fand. Anschließend nahm er seine enorme Brille ab, zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seiner Tweedjacke und sah zu dem nervösen und noch immer leicht atemlosen Mann auf, der an seinem Tisch Stellung bezogen hatte.
»Roger Gjendem, nehme ich an?«
»Ja.«
Nordbo faltete die Zeitung zusammen. Gjendem war gesagt worden, er solle das Gespräch als beendet betrachten, wenn Nordbo die Zeitung wieder aufschlug. Nordbo legte den Kopf etwas zur Seite und widmete sich der nicht ganz unbedeutenden Aufgabe, seine Brille zu putzen.
»Sie arbeiten jetzt schon seit vielen Jahren an Kriminalfällen und kennen die Leute des Kriminalamts und des Morddezernats
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