Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Pullover. Der weiße Pullover. Er bekam eine Schulter zu fassen, schob weiteren Schnee beiseite, konnte einen Arm befreien und zog den leblosen Körper in den Tunnel, den er gegraben hatte. Ihre Haare fielen auf sein Gesicht, sie rochen noch immer nach Kaja. Es gelang ihm, ihren Kopf und den halben Oberkörper auf den Boden des Kamins zu ziehen, dann versuchte er ihren Puls zu fühlen, doch seine Fingerkuppen lagen wie Zement an ihrem Hals. Er hielt sein Gesicht vor ihre Nase, spürte aber keinen Luftzug. Dann öffnete er ihren Mund, überprüfte, dass die Zunge richtig lag, inhalierte und blies in ihren Mund. Richtete sich auf, um Luft zu bekommen, kämpfte gegen den Drang zu husten an, als er die Aschepartikel einatmete, und beatmete sie erneut. Ein drittes Mal. Er zählte; vier, fünf, sechs, sieben. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen, und er stellte sich vor, dass er vor dem Kamin in der Hütte in Lesja saß. Ein kleiner Junge blies in die Glut, um das Feuer anzufachen, und Vater lachte, als er schwindelig nach hinten taumelte, einer Ohnmacht nahe. Aber er musste weitermachen, wusste, dass die Chancen, sie ins Leben zurückzuholen, mit jeder Sekunde, die verstrich, geringer wurden.
    Als er sich nach unten beugte, um sie zum zwölften Mal zu beatmen, spürte er einen warmen Hauch in seinem Gesicht. Er hielt den Atem an, wartete, wagte kaum zu glauben, dass es stimmte. Der Luftzug verschwand. Um gleich darauf wiederzukommen. Sie atmete! Im selben Moment krümmte ihr Körper sich zusammen, und sie begann zu husten. Dann hörte er ihre leise Stimme: »Harry, bist du das?«
    »Ja.«
    »Wo … Ich kann nichts sehen.«
    »Das ist in Ordnung … wir sind im Kamin.«
    Pause.
    »Was machst du?«
    »Ich grabe nach Jussi.«
    Als Harry Kolkkas Kopf vor dem Kamin aus dem Schnee befreite, wusste er nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Nur dass es für Jussi Kolkka zu spät war. Er hatte ein Streichholz angerissen und die großen, leeren Augen des Finnen gesehen, bevor die Flamme gleich wieder erloschen war.
    »Er ist tot«, sagte Harry.
    »Kannst du nicht versuchen, ihn zu beatmen … ?«
    »Nein«, sagte Harry.
    »Und jetzt?«, flüsterte Kaja schwach und kraftlos.
    »Wir müssen raus«, sagte Harry und fand ihre Hand. Drückte sie.
    »Können wir nicht einfach hier warten, bis sie uns finden?«
    »Nein«, sagte er.
    »Das Streichholz«, sagte sie.
    Harry antwortete nicht.
    »Das ist sofort wieder ausgegangen«, sagte Kaja. »Hier ist auch kaum noch Luft. Die ganze Hütte ist unter dem Schnee begraben. Deshalb willst du ihn auch nicht beatmen, nicht wahr. Für noch einen mehr reicht die Luft nicht. Harry …«
    Harry war aufgestanden und hatte versucht, sich durch den Kamin nach oben zu schieben, aber es war zu eng, seine Schultern steckten fest. Er hockte sich wieder hin, brach beide Enden des Skistocks ab, so dass er nur noch ein hohles Metallrohr war, streckte ihn im Kamin nach oben und stand wieder auf, dieses Mal mit nach oben gestreckten Armen. Das ging einigermaßen. Dann meldete sich die Klaustrophobie, verschwand aber gleich wieder, als begriffe sein Körper, dass irrationale Phobien in dieser Situation ein unzulässiger Luxus waren. Er presste den Rücken gegen eine Seite des Kamins und schob sich mit den Beinen nach oben. Seine Oberschenkelmuskulatur brannte, er atmete schwer, und wieder drehte sich alles. Trotzdem machte er weiter, Stück für Stück, drückte sich hoch … Es wurde wärmer, je höher er kam, und Harry wusste, was das bedeutete. Die warme Luft fand keinen Weg nach draußen. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass sie längst an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben wären, wenn der Kamin gebrannt hätte, als die Lawine kam. Sie hatten wirklich Glück im Unglück gehabt. Falls diese Lawine tatsächlich ein Unglück gewesen war. Das Dröhnen, das sie gehört hatten …
    Er stieß mit dem Stock gegen etwas. Er kletterte weiter, tastete sich mit der freien Hand vor und erreichte ein Eisengitter. So ein Ding, das sie oben auf den Schornstein setzten, damit keine Eichhörnchen und anderen Tiere in die Hütte kamen. Er fuhr mit den Fingern am Rand entlang. Einzementiert. Mist!
    Kajas schwache Stimme erreichte ihn. »Mir wird schwindelig, Harry!«
    »Du musst tief einatmen.«
    Er schob den Stab durch das feinmaschige Gitter. Die andere Seite war schneefrei!
    Er spürte die Milchsäure kaum mehr, die in seinen Muskeln brannte, sondern schob den Stock hektisch weiter. Umso größer war die

Weitere Kostenlose Bücher