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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Schritt des Mannes blutgetränkt war. Vermutlich war die Kugel von unten in seinen Magen eingedrungen, eine Verletzung, an der man nicht gleich starb. Eine blutige Schulter, also musste er ihn auch unter der Achsel erwischt haben. Das erklärte, warum die Kalaschnikow zuerst hinuntergefallen war. Harry hockte sich hin. Aber das erklärte nicht, dass der Mann nicht atmete.
    Er leuchtete ihm ins Gesicht. Dass der
Junge
nicht atmete. Die dritte Kugel hatte ihn unter dem Kinn getroffen, exakt in dem Winkel, in dem sie zueinander gestanden hatten, und war von dort durch den Mund und den Gaumen ins Gehirn gedrungen. Harry atmete ein. Der Junge konnte kaum älter als sechzehn oder siebzehn sein. Ein richtig hübscher Junge. Verschwendete Schönheit. Harry stand auf, legte die Gewehrmündung an den Kopf des Toten und rief laut:
»Where are they? Mister Leike. Tony. Where?«
    Er wartete einen Augenblick.
    »What?Louder. I can't hear you. Where? Three seconds. One – two …«
    Harry drückte ab. Die Waffe stand offensichtlich auf Vollautomatik, denn es gingen mindestens vier Schüsse ab, bevor er den Finger vom Abzug gelöst hatte. Harrys Augen waren geschlossen, als er die Spritzer auf dem Gesicht spürte, und als er sie wieder öffnete, sah er, dass das hübsche Gesicht des Jungen verschwunden war. Dafür rann es nass und warm an Harrys eigenem, nacktem Körper nach unten.
    Harry ging zu Kinzonzi. Stellte sich breitbeinig über ihn, richtete den Lichtkegel der Lampe auf sein Gesicht, zielte mit der Gewehrmündung auf seine Stirn und wiederholte seine Fragen wortgetreu.
    »Where are they?Mister Leike. Tony. Where? Three seconds … ?«
    Kinzonzi öffnete die Augen. Harry sah das Weiße in seinen Augäpfeln zittern. Die Angst vor dem Tod ist eine Voraussetzung für das Leben. Das musste so sein, auf jeden Fall hier in Görna.
    Kinzonzi antwortete, langsam und deutlich.
KAPITEL 88
    Kirche
    K inzonzi lag still da. Der große weiße Mann hatte die Lampe auf den Boden gestellt, so dass sie an die Decke leuchtete. Kinzonzi sah, wie er Oudrys Kleider anzog, das T-Shirt in Streifen riss und sich um Kiefer und Kopf wickelte, um die vom Mundwinkel bis zum Ohr klaffende Wunde zu verbinden. Als er den Stoff straff zog, hing der Unterkiefer nicht mehr herab, doch sogleich drang das Blut durch die Baumwolle.
    Er hatte die wenigen Fragen des Mannes beantwortet. Wo? Wie viele? Wie bewaffnet?
    Der weiße Mann ging zum Regal, nahm einen schweren Koffer heraus, öffnete ihn und überprüfte den Inhalt.
    Kinzonzi wusste, dass er sterben würde. Jung und gewaltsam. Vielleicht aber noch nicht jetzt, vielleicht noch nicht in dieser Nacht. Sein Bauch brannte, als hätte jemand Säure darübergekippt. Aber das würde sicher wieder werden.
    Der weiße Mann erhob sich und nahm Oudrys Kalaschnikow an sich. Dann ging er zu Kinzonzi und beugte sich über ihn, das Licht hinter sich. Eine große Gestalt mit einem weißen Verband, wie man ihn den Toten um Kopf und Kiefer wickelte, bevor man sie beerdigte. Wenn Kinzonzi erschossen werden sollte, dann jetzt. Der Mann ließ die T-Shirt-Streifen, die er selbst nicht gebraucht hatte, auf ihn fallen.
    »Help yourself.«
    Kinzonzi hörte ihn stöhnen, als er die Leiter nach oben stieg.
    Kinzonzi schloss die Augen. Wenn er nicht zu lange wartete, gelang es ihm vielleicht, die schlimmste Blutung zu stoppen, bevor er vom Blutverlust ohnmächtig wurde, und sich nach oben auf die Straße zu kämpfen, zu den Menschen. Mit etwas Glück fand er jemanden, der nicht zur Rasse der Gomageier gehörte. Vielleicht fand er auch Alma und konnte sie zu seiner Frau machen. Denn bald würde sie keinen Mann mehr haben. Und er keinen Arbeitgeber. Er hatte gesehen, was sich in dem Koffer befand, den der große weiße Mann mitgenommen hatte.
    Harry stoppte den Range Rover vor der niedrigen Kirchenmauer, Stoßstange an Stoßstange mit dem alten Hyundai, der noch immer dort stand. Im Auto sah er die Glut einer Zigarette.
    Harry schaltete die Lampen aus, kurbelte die Scheibe runter und steckte den Kopf heraus. »Saul!«
    Die Glut bewegte sich, und der Taxifahrer stieg aus. »Harry? Was ist passiert? Ihr Gesicht?«
    »Es lief nicht alles nach Plan. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie noch hier sind.«
    »Warum nicht? Sie haben mich für den ganzen Tag bezahlt.« Saul strich mit der Hand über die Motorhaube des Range Rover. »Gutes Auto! Gestohlen?«
    »Geliehen.«
    »Geliehenes Auto, sind die Kleider auch

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