Leopard
konnte nicht atmen. Es war kalt und stockfinster, er konnte sich nicht bewegen, und …
Harry zuckte zusammen und blinzelte verwirrt ins Dunkel. Ein Echo hing noch zwischen den Wänden des Raumes. Aber welcher Laut hatte dieses Echo hervorgerufen? Er nahm den Revolver, der auf dem Nachtschränkchen lag, stellte die Fußsohlen auf den kalten Boden und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Leer. Das Licht in dem leeren Barschrank brannte noch immer. Eine einsame Flasche Martell hatte dort gestanden. Sein Vater war mit Alkohol immer vorsichtig gewesen, da er nur zu gut wusste, welche Gene in ihm steckten, und so war diese Flasche Cognac nur für Besucher gedacht gewesen. Wenn er auch nicht oft Besuch bekommen hatte. Die staubige, halbleere Flasche war im Kielwasser von Kapitän Jim Beam und Matrose Harry Hole gefolgt. Harry setzte sich in den Sessel und bohrte mit dem Finger in dem Loch des Armlehnenbezugs. Er schloss die Augen und sah vor sich, wie er sich das Glas halb vollgoss. Hörte das tiefe Glucksen der Flasche, sah das Schimmern der goldbraunen Flüssigkeit. Der Duft, das Zittern, als er das Glas an die Lippen führte, und die fast panische Gegenwehr seines Körpers. Dann kippte er sich den Inhalt des Glases in den Mund.
Es war wie ein Schlag gegen die Schläfe.
Harry riss die Augen auf. Es war wieder vollkommen still.
Und gleich darauf war er wieder da. Der Feueralarm der Hölle. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Die Türklingel. Harry blickte auf die Uhr. Halb eins.
Er ging auf den Flur, schaltete das Außenlicht ein und entdeckte hinter dem rauen Glas der Tür ein Profil. Mit der rechten Hand umklammerte er den Revolver, während er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand aufschloss und die Tür in einem Schwung weit aufriss.
Im Licht des Mondes sah er die Skispur, die über den Platz vor dem Haus führte. Die stammte nicht von ihm. Aber Gespenster hinterließen keine Skispuren, oder?
Sie führte um das Haus herum zur Rückseite.
Ihm fiel ein, dass das Fenster vom Schlafzimmer offen stand, er sollte … Abrupt hielt er den Atem an und hatte das Gefühl, dass im selben Moment auch jemand anders zu atmen aufhörte. Nicht jemand. Ein Tier.
Er drehte sich um. Öffnete den Mund. Sein Herz hörte zu schlagen auf. Wie hatte er sich so schnell und lautlos bewegen können, wie so schnell so nah … kommen?
Kaja starrte ihn mit großen Augen an.
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.
Sie trug einen viel zu großen Regenmantel, ihre Haare standen in alle Richtungen ab, und sie sah blass und müde aus. Er hatte ein paarmal fest die Augen zugekniffen, um sicherzustellen, dass er nicht mehr träumte. So schön hatte er sie noch nie gesehen.
Harry versuchte, so leise zu kotzen, wie es ging. Er hatte seit über einem Tag keinen Alkohol mehr getrunken, und sein Magen war ein empfindliches Tier, das sich ebenso gegen plötz liches Trinken wie gegen plötzliche Abstinenz wehrte. Er bediente die Klospülung, trank vorsichtig ein Glas Wasser und ging zurück in die Küche. Der Wasserkessel rauschte auf dem Herd, und Kaja saß auf einem der Küchenstühle und sah ihn an.
»Tony Leike ist also verschwunden«, sagte er.
Sie nickte. »Mikael hat die Order ausgegeben, ihn zu holen, aber keiner konnte ihn finden. Er war weder zu Hause noch im Büro, und er hat keine Nachrichten hinterlassen. Es taucht aber auch kein Leike auf den Passagierlisten der Flug- oder Fährgesellschaften auf. Schließlich hat einer der Ermittler Lene Galtung erreicht. Sie meinte, er könnte in die Berge gefahren sein. Um nachzudenken, das käme öfter mal vor. Wenn dem so ist, hat er den Zug genommen, denn sein Auto steht zu Hause in der Garage.«
»Ustaoset«, sagte Harry. »Er hat gesagt, das sei seine Landschaft da oben.«
»Er ist jedenfalls nicht in einem Hotel abgestiegen.«
»Hm.«
»Sie meinen, er könnte in Gefahr sein.«
»Sie?«
»Bellman, das Kriminalamt.«
»Ich dachte, das wäre für dich eher ein Wir. Was wollte Bellman denn von Tony Leike?«
Sie schloss die Augen. »Mikael hat einen Plan ausgeheckt. Um den Mörder aus der Reserve zu locken.«
»Und der wäre?«
»Der Mörder scheint alle umbringen zu wollen, die in jener Nacht in der Håvasshütte waren. Bellman wollte deshalb Tony Leike überreden, als Lockvogel einer arrangierten Operation zu dienen. Leike sollte in einem Zeitungsinterview über die schwere Zeit berichten, die er gerade durchmacht, und dabei erwähnen, dass er jetzt erst einmal an
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