Leopard
und spürte seine Fingerkuppen kribbeln, als wären seine Hände kalt gewesen und würden erst jetzt wieder richtig durchblutet. »Als wir klein waren, hatte meine Schwester sehr lange Haare. Wir hatten unsere Mutter im Krankenhaus besucht und wollten mit dem Fahrstuhl nach unten fahren. Vater wartete draußen, er mochte keine Krankenhäuser. Søs stand zu nah davor, so dass sich ihre Haare zwischen Fahrstuhl und Wand verfingen. Ich konnte mich vor Entsetzen nicht rühren. Hab nur erstarrt zugesehen, wie sie an den Haaren hochgezogen wurde.«
»Wie ist das ausgegangen?«, fragte sie.
Sie standen viel zu dicht voreinander, dachte er. Hatten ihre gegenseitigen Grenzen überschritten. Und waren sich dessen bewusst. Er holte tief Luft.
»Sie hat einige Haare verloren. Sie sind nachgewachsen. Aber ich … ich habe etwas verloren. Das ist nicht wieder nachgewachsen.«
»Du glaubst, du hast versagt?«
»Das ist eine Tatsache.«
»Wie alt warst du?«
»Alt genug, um zu versagen.« Er lächelte. »Das ist langsam genug Selbstmitleid für eine Nacht, findest du nicht? Meinem Vater hat es übrigens gefallen, dass du einen Knicks gemacht hast.«
Er machte einen großen Schritt zur Seite und öffnete ihr die Tür. »Gute Nacht.«
Sie trat auf die Treppe hinaus und drehte sich noch einmal um.
»Harry?«
»Ja?«
»Warst du in Hongkong nicht einsam?«
»Einsam?«
»Ich habe dich beobachtet, als du geschlafen hast. Du sahst so … einsam aus.«
»Doch«, sagte er. »Ich war einsam. Gute Nacht.«
Sie blieben eine halbe Sekunde zu lange stehen. Fünf Zehntelsekunden weniger, und sie wäre auf dem Weg nach unten gewesen und er in Richtung Küche gegangen.
Ihre Finger legten sich um seinen Nacken und zogen seinen Kopf herunter, während sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte. Ihre Augen entglitten seinem Fokus und wurden ein glitzernder See, bevor sie sie schloss. Die Lippen waren halb geöffnet, als sie die seinen berührten. Sie hielt ihn, und er rührte sich nicht, spürte nur den süßen Dolchstoß in seinem Magen, der wie ein Schuss Morphin seinen Körper durchströmte.
Sie ließ ihn los.
»Schlaf gut, Harry.«
Er nickte nur.
Sie drehte sich um und ging die Treppe hinunter. Er ging ins Haus und schloss leise die Tür hinter sich.
Er räumte die Kaffeetassen ab, spülte die Kanne aus und hatte sie bereits wieder in den Schrank gestellt, als es klingelte.
Er ging nach draußen und öffnete.
»Ich hab was vergessen«, sagte sie.
»Was denn?«, fragte er.
Sie hob ihre Hand und fuhr ihm über die Stirn. »Wie du aussiehst.«
Er zog sie an sich. Ihre Haut, ihr Geruch, und er fiel, ein wunderbarer, berauschender Fall.
»Ich will dich«, flüsterte sie. »Will mit dir schlafen.«
»Und ich mit dir.«
Sie ließen einander los. Sahen sich an. Ihre Worte standen plötzlich so ernst zwischen ihnen, und einen Augenblick lang befürchtete er, sie würde es bereuen. Dass er es selbst bereute. Dass das zu weit ging, zu schnell war. Dass es viel zu viele andere Sachen gab, zu viel Schlacke, zu viel Ballast, zu viele gute Gründe. Aber sie nahm seine Hand, fast furchtsam, flüsterte »komm« und ging vor ihm die Treppe hoch.
Das Schlafzimmer war kalt und roch nach Eltern. Er schaltete das Licht ein. Das große Doppelbett war gemacht, zwei Decken und zwei Kissen.
Harry half ihr, das Bettzeug zu wechseln.
»Auf welcher Seite hat er geschlafen?«, fragte sie.
»Da«, antwortete Harry und streckte die Hand aus.
»Und er hat auch nach ihrem Tod immer auf der Seite geschlafen«, sagte sie wie zu sich selbst. »Für alle Fälle.«
Sie zogen sich aus, ohne sich anzusehen. Krochen unter die Decke und trafen sich dort.
Zuerst lagen sie einfach nur dicht beieinander, küssten sich, suchend und vorsichtig, um nichts kaputtzumachen, bevor sie wussten, wie was wirkte. Lauschten auf ihren Atem und das Rauschen der wenigen Autos, die draußen vorbeifuhren. Dann wurden die Küsse gieriger, die Berührungen mutiger, bis er schließlich ihren heftigen Atem an seinem Ohr hörte.
»Hast du Angst?«, fragte er.
»Nein«, stöhnte sie, legte ihre Hand um sein steifes Glied, hob ihre Hüften und wollte ihm den Weg zeigen, aber er schob ihre Hand weg und steuerte sich selbst.
Sie gab keinen Laut von sich, sondern hielt nur den Atem an, als er in sie eindrang. Er schloss die Augen, blieb ruhig liegen und konzentrierte sich auf das Gefühl. Dann begann er, sich vorsichtig zu bewegen. Öffnete die Augen und fing ihren Blick ein. Sie sah
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