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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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wurde, als hätte die Lawine geatmet, erst aus und dann wieder ein. Er fühlte, wie Kolkkas Hand seine fest umklammerte, und wartete auf Kajas Händedruck, als die Schneewand die Hütte traf.

KAPITEL 58
     
    Schnee
     
    E s war ohrenbetäubend still und stockfinster. Harry versuchte, sich zu bewegen. Vergeblich. Sein Körper war wie in Gips gegossen, er konnte nicht einmal den kleinen Finger rühren. Er hatte automatisch getan, was sein Vater ihm immer eingeschärft hatte: die Hand so vors Gesicht legen, dass sich ein Hohlraum bildete. Ob dieser Hohlraum tatsächlich mit Sauerstoff gefüllt war, konnte Harry nicht sagen. Weil er nicht atmen konnte. Er wusste gleich, was das war. Panzerherz. Das, wie Olav Hole erklärt hatte, zustande kam, wenn Brustkorb und Zwerchfell so fest vom Schnee zusammengepresst wurden, dass die Lungen sich nicht mehr ausdehnen konnten. Das hieß, dass seinem Körper nur so viel Sauerstoff zur Verfügung stand, wie im Blut war, etwa ein Liter also, und dass er bei einem durchschnittlichen Verbrauch von 0,25 Litern pro Minute noch knapp vier Minuten zu leben hatte. Er bekam Panik; er brauchte Luft, musste atmen! Harry spannte den Körper an, aber der Schnee war wie eine Würgeschlange, die ihre Umklammerung noch verstärkte. Er wusste, dass er die Panik verjagen, dass er denken musste. Jetzt. Die Welt draußen hatte aufgehört zu existieren; Zeit, Schwerkraft, Temperatur, all das gab es nicht mehr. Harry hatte keine Ahnung, wo oben und wo unten war oder wie lange er schon unter dem Schnee begraben lag. Ein weiterer Lehrsatz seines Vaters schwirrte durch sein Hirn. Um sich zu orientieren, wie herum man liegt, muss man etwas Speichel über die Lippen schieben und darauf achten, in welche Richtung der Speichel übers Gesicht läuft. Er fuhr mit der Zunge am Gaumen entlang. Bestimmt war es die Angst, das Adrenalin, die ihn so austrock neten. Er öffnete die Lippen und schob sich mit Hilfe der Finger vor seinem Gesicht etwas Schnee in den offenen Mund. Kaute, öffnete ihn wieder und ließ das geschmolzene Wasser herauslaufen. Als seine Nasenlöcher sich mit Wasser füllten, kriegte er einen neuen Panikschub und zuckte heftig zusammen. Schloss den Mund und blies das Wasser mit der Restluft aus seinen Lungen heraus. Bald würde er sterben.
    Das Wasser hatte ihm aber verraten, dass er kopfüber im Schnee lag, und das Zucken, dass es offensichtlich doch Raum für kleinere Bewegungen gab. Er probierte es noch einmal, spannte alle Muskeln in seinem Körper an und spürte, wie der Schnee ein wenig nachgab. Genug, um den Würgegriff des Panzerherzens zu lockern? Er holte Luft. Bekam auch etwas. Nicht genug. Das Gehirn schien schon mit Sauerstoff unterversorgt zu sein, trotzdem erinnerte er sich glasklar an die Worte seines Vaters bei den Osterausflügen nach Lesja. Dass man in einer Lawine, in der man noch etwas Luft hatte, nicht an Sauerstoffmangel, sondern an zu viel CO 2 im Blut starb. Seine andere Hand stieß gegen etwas Hartes, das sich wie ein Drahtnetz anfühlte. Unterm Schnee bist du wie ein Hai, du stirbst, wenn du dich nicht bewegst. Selbst wenn der Schnee locker genug ist und etwas Sauerstoff durchlässt, wird die Wärme deines Atems und deines Körpers schnell eine hermetisch abgeschlossene Eisschicht um dich herum bilden, so dass kein Sauerstoff mehr eindringen und das giftige Kohlendioxid aus deinem eigenen Atem nicht mehr entweichen kann. Du produzierst schlicht und einfach deinen eigenen Eissarg. Verstehst du?
    »Ja, Papa, entspann dich. Wir sind hier in Lesja, nicht auf dem Himalaya.«
    Das Lachen seiner Mutter aus der Küche.
    Harry wusste, dass die Hütte mit Schnee gefüllt war. Über ihm war ein Dach. Und über diesem Dach lag aller Wahrscheinlichkeit noch mehr Schnee. Es gab keinen Weg hinaus. Die Zeit tickte. Hier war alles zu Ende.
     
    Er hatte gebetet, nicht wieder aufzuwachen. Hatte sich inständig gewünscht, die nächste Bewusstlosigkeit wäre die letzte. Er hing kopfüber. Sein Kopf dröhnte und drohte zu platzen.
    Das Geräusch des Schneescooters hatte ihn geweckt.
    Er versuchte, sich möglichst nicht zu bewegen. Anfangs hatte er das noch getan, hatte geruckt, die Muskeln angespannt und sich zu befreien versucht. Aber bald hatte er den Versuch aufgegeben. Nicht wegen der Fleischhaken in den Waden, er hatte längst jegliches Gefühl in den Beinen verloren, sondern wegen des Geräusches. Dem Laut zerreißenden Gewebes, der zerberstenden Sehnen und Muskeln, wenn er sich hin und

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