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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Stillleben.
    Kolkka hatte sich hingelegt, aber Harry ging davon aus, dass der Finne mit offenen Augen und hellwachen Sinnen auf seinem Bett lag.
    Kaja saß mit aufgestütztem Kinn vor dem Fenster und schaute nach draußen. Sie hatte ihren weißen Rollkragenpullover angezogen, da sie sich darauf geeinigt hatten, den Ofen und Kamin ausgehen zu lassen, weil es womöglich verdächtig aussah, wenn der Schornstein vierundzwanzig Stunden rauchte, wenn sich nur zwei Personen in der Hütte aufhielten.
    »Falls du den Sternenhimmel über Hongkong vermisst, solltest du jetzt mal rausgucken«, sagte Kaja.
    »Ich kann mich an keinen Sternenhimmel erinnern«, sagte Harry und zündete sich eine Zigarette an.
    »Gibt es nichts, was du an Hongkong vermisst?«
    »Li Yuans Glasnudeln«, sagte Harry. »Jeden Tag.«
    »Bist du in mich verliebt?« Sie hatte die Stimme nur leicht gedämpft und sah ihn aufmerksam an, während sie die Haare mit einem Gummiband zusammenfasste.
    Harry spürte nach. »Jetzt nicht.«
    Sie lachte und sah ihn überrascht an. »Nicht? Was heißt das?«
    »Dass dieser Teil von mir abgeschaltet ist, solange wir in der Hütte sind.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Du hast einen Schaden, Hole.«
    »Darüber«, sagte Harry mit einem schiefen Grinsen, »herrscht nun wirklich kein Zweifel.«
    »Und wie sieht es aus, wenn der Job hier erledigt ist …« Sie sah auf die Uhr. »In ungefähr zehn Stunden?«
    »Dann bin ich vielleicht wieder in dich verliebt«, sagte Harry und legte seine Hand neben ihre auf den Tisch. »Wenn nicht früher.«
    Sie sah ihre Hand an. Wie viel größer seine war. Wie viel delikater geformt ihre. Wie viel blasser und knotiger seine mit den dicken Adern, die sich über den Handrücken schlängelten.
    »Dann könntest du dich doch wieder in mich verlieben, bevor der Job erledigt ist?« Sie legte ihre Hand auf seine.
    »Damit meinte ich, dass der Job vielleicht vor Ablauf der zehn Stunden …«
    Sie zog die Hand weg.
    Harry sah sie fragend an. »Ich meinte doch nur …«
    »Hör mal!«
    Harry hielt die Luft an und lauschte. Er hörte nichts.
    »Was war das?«
    »Klang wie ein Auto«, sagte Kaja und spähte nach draußen. »Was meinst du?«
    »Wohl kaum«, sagte Harry. »Bis zum nächsten winteroffenen Weg sind es über zehn Kilometer. Könnte das ein Helikopter gewesen sein? Oder ein Schneescooter?«
    »Wahrscheinlich nur mein überspanntes Hirn.« Kaja seufzte. »Jetzt ist das Geräusch weg. Wenn es denn überhaupt da war. Tut mir leid, Angst macht einen schnell hypersensibel.«
    »Nein«, sagte Harry und zog den Revolver aus dem Schulterhalfter. »Angemessen ängstlich und angemessen sensibel. Beschreib, was du gehört hast.« Harry stand auf und stellte sich an das andere Fenster.
    »Nichts, sag ich doch.«
    Harry stellte das Fenster auf Kipp. »Dein Gehör ist besser als meins. Hör für uns beide.«
    Sie saßen da und lauschten in die Stille. Die Minuten vergingen.
    »Harry …«
    »Schhh.«
    »Setz dich wieder zu mir, Harry.«
    »Er ist hier«, sagte Harry, flüsternd, als spräche er mit sich selbst. »Er ist ganz in der Nähe.«
    »Harry, jetzt bist du aber hypersen…«
    Ein dumpfes Grummeln war zu hören. Leise, tief und irgendwie rollend und langsam, gar nicht bedrohlich, wie fernes Donnergrollen. Aber Harry wusste, dass es in einer sternenklaren Nacht bei sieben Grad unter null selten donnerte.
    Er hielt die Luft an.
    Und dann hörte er es wieder, ein Dröhnen, anders als vorher, aber ebenso niederfrequent wie die Schallwellen aus einem Basslautsprecher, Schallwellen, die Luft vor sich herschoben, die man im Bauch spürte. Harry hatte dieses Geräusch ein einziges Mal in seinem Leben gehört, und in diesem Moment wusste er, dass er sich bis ans Ende seines Lebens daran erinnern würde.
    »Lawine!«, rief Harry und rannte zu der Tür, die der Bergseite zugewandt war und hinter der Kolkka lag. »Lawine!«
    Die Schlafzimmertür flog auf, und da stand Kolkka, hellwach. Der Boden bebte. Das musste eine gigantische Lawine sein. Harry wusste, dass die Hütte ein Fundament und einen Keller hatte, aber bis dorthin würden sie es niemals schaffen. Hinter Kolkka flogen die Glassplitter des Schlafzimmerfensters wie Geschosse durch den Raum, von der Luftmasse in die Hütte gedrückt, die große Lawinen vor sich herschoben.
    »Festhalten!«, schrie Harry durch das Getöse und streckte die Hände aus, eine zu Kaja und eine zu Kolkka. Er sah sie auf ihn zustürzen, als alle Luft aus der Hütte gesogen

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