Leopard
mit Harry in diese Einöde zu fahren. Oder? Er atmete ein und aus. Es wäre kein Problem für Bellman, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Er brauchte nur nach unten klettern, die Gurte und das Seil verschwinden lassen und behaupten, Harry wäre im dichten Schneetreiben über die Kante des Abgrundes getreten. Sein Hals war trocken. Das durfte alles nicht wahr sein. Er hatte sich doch nicht aus dieser verfluchten Lawine ausgegraben, um zwölf Stunden später in einen Abgrund gestoßen zu werden. Von einem Polizisten. Verdammt noch mal, das war doch …
Die Gurte gaben nach. Er fiel. Ultrarapid.
»Gerüchten zufolge hat Bellman einen Kollegen misshandelt«, sagte Gjendem. »Nur weil der auf der Weihnachtsfeier der Polizei ein paarmal zu oft mit seiner Frau getanzt hatte. Der Typ hatte einen gebrochenen Kiefer und einen Schädelbruch und wollte ihn anzeigen, ihm fehlten aber Beweise, weil der Schläger eine Sturmhaube getragen hatte. Es wussten aber alle, dass es Bellman gewesen war. Er hatte damals einen ganzen Berg Scherereien und bewarb sich bei Europol, um aus der Schusslinie rauszukommen.«
»Glauben Sie, dass an diesen Gerüchten etwas dran ist, Gjendem?«
Roger zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall kann man daraus schließen, dass Bellman eine gewisse … äh, Toleranz gegenüber dieser Art von Entgleisung hegt. Wir sehen uns gerade im Zusammenhang mit der Lawine bei der Håvasshütte die Hintergrundgeschichte Jussi Kolkkas genauer an. Er hat während eines Verhörs einen Vergewaltiger verprügelt. Und Truls Berntsen, Bellmans Sidekick, ist auch nicht unbedingt ein Musterknabe.«
»Gut. Ich möchte, dass Sie sich bei dem Duell zwischen Kriminalamt und Morddezernat um die Verantwortung für die Mordermittlungen kümmern. Werfen Sie ein paar Brandfackeln aus. Schreiben Sie meinetwegen etwas über psychopathischen Führungsstil. Das wäre alles. Dann wollen wir mal abwarten, wie der Justizminister reagiert.«
Wortlos und ohne jede das Gespräch abschließende Geste setzte Bent Nordbø sich die frischgeputzten Glasbausteine auf die Nase, faltete die Zeitung auseinander und widmete sich wieder seiner Lektüre.
Harry dachte nichts. Rein gar nichts. Sein Leben passierte auch nicht Revue, keine Gesichter von Menschen, denen er gerne gesagt hätte, dass er sie liebte, oder irgendein Licht, dem er entgegeneilen wollte. Möglicherweise war die Zeit dafür auch zu knapp, schließlich fiel er nur fünf Meter. Der Klettergurt straffte sich im Schritt und im Kreuz, aber durch das elastische Seil fiel das jähe Abbremsen verhältnismäßig sanft aus. Im nächsten Augenblick spürte er, dass es wieder aufwärtsging. Der Wind blies ihm Schnee ins Gesicht.
»Verdammt, was war da los?«, fragte Harry atemlos, als er fünfzehn Minuten später schwankend in den Windböen am Rand des Abgrundes stand und das Seil vom Klettergurt löste.
»Na, Schiss gehabt?« Bellman grinste.
Statt das Seil wegzulegen, wickelte Harry es mehrmals um seine rechte Hand und versicherte sich, genügend Spiel zu haben, um auszuholen. Ein kurzer Uppercut gegen das Kinn. Das Seil würde dafür sorgen, dass seine Hand auch morgen noch zu gebrauchen war, nicht wie bei Bjørn Holm, da hatten seine Knöchel noch zwei Tage später wehgetan.
Er machte einen Schritt auf Bellman zu. Sah den überraschten Gesichtsausdruck des Kollegen, als er das um Harrys Faust gewickelte Seil erblickte, sah ihn nach hinten ausweichen, stolpern, rückwärts in den Schnee fallen.
»Nicht! Ich … ich musste nur erst einen Knoten in das Ende des Seils machen, damit es nicht durch die Seilklemme rutscht …«
Harry ging weiter auf ihn zu, und Bellman, der gekrümmt im Schnee hockte, hielt schützend den Arm vors Gesicht.
»Harry! Da … ich bin ausgerutscht … und der Wind …«
Harry blieb stehen, sah Bellman verdutzt an. Dann stapfte er an dem zitternden Kriminaloberkommissar vorbei durchs Schneegestöber. Der eisige Wind drang durch alle Kleiderschichten, durch Haut, Fleisch, Muskeln, bis ins Mark. Harry griff sich einen Skistock, der am Scooter festgezurrt war, und suchte nach einem Stück Stoff, das er an die Spitze knoten konnte, fand aber nichts. Eines seiner Kleidungsstücke konnte er auf keinen Fall entbehren, so dass er zu guter Letzt den bloßen Stock in den Schnee steckte, um die Fundstelle zu markieren. Die Götter allein wussten, wie lange sie brauchen würden, wieder hierherzufinden. Harry drückte den elektrischen Startknopf. Fand den
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