Leopard
Boden war feucht bis an die Bodenleisten, als wäre hier erst vor kurzem gewischt worden. Sein Blick blieb an etwas hängen. Er ging in die Hocke. Halb verdeckt von der Bodenleiste lag dort etwas Braunschwarzes. Ein kleiner Kiesel? Harry hob es auf und sah es sich genauer an. Jedenfalls kein Lavagestein. Er steckte es in die Tasche.
In den Schubfächern in der Küche fand er Instantkaffee und Brot. Es war noch relativ frisch. Im Kühlschrank standen ein Glas Marmelade, Butter und zwei Dosen Bier. Harry war so hungrig, dass er glaubte, gebratenes Fleisch zu riechen. Er durchsuchte alle Schränke, fand aber nichts. Verdammt, ernährte der Kerl sich von Marmeladenbroten? Auf einem Tellerstapel lag eine Packung Kekse. Es waren die gleichen Teller wie in der Håvasshütte. Und auch die gleichen Möbel. Waren sie in einer Touristenhütte? Harry hielt inne. Nein, er bildete sich das nicht ein, es roch wirklich nach gebratenem – oder genauer gesagt – verbranntem Fleisch.
Er ging zurück ins Wohnzimmer.
»Riechen Sie das auch?«, fragte er.
»Was?«
»Na, diesen Geruch«, sagte Harry und ging neben dem Eisenofen in die Hocke. Neben der Ofenklappe, auf dem Relief eines Hirsches, hingen drei schwarze, undefinierbare Krümel, am Gusseisen festgebrannt.
»Haben Sie was Essbares gefunden?«, fragte Bellman.
»Wenn man das so nennen kann«, sagte Harry nachdenklich.
»Auf der anderen Seite des Vorplatzes ist ein Vorratshaus. Vielleicht …«
»Wie wär’s, wenn Sie einfach rübergingen und nachschauten?«
Bellman nickte, stand auf und ging nach draußen.
Harry trat an den Schreibtisch, um nach etwas zu suchen, womit er die festgebrannten Stückchen abschaben konnte. Er zog die obere Schublade auf. Leer. Genau wie die anderen. Bis auf ein Blatt Papier in der untersten Schublade. Er nahm es heraus, aber es war kein einfaches Blatt Papier, sondern ein Foto. Es verwunderte Harry, in einer Touristenhütte ein Familienfoto zu finden. Das Bild war im Sommer aufgenommen worden, vor einem kleinen Wohnhaus auf einem Bauernhof. Auf der Treppe saßen eine Frau und ein Mann, und zwischen ihnen stand ein Junge. Die Frau trug ein blaues Kleid, war ungeschminkt und lächelte müde. Der Mann saß mit verkniffenem Mund und strenger Miene da. Er hatte den ernsten, verschlossenen Gesichtsausdruck eines introvertierten norwegischen Mannes, der ein dunkles Geheimnis hatte. Aber eigentlich war es der Junge in der Mitte, der Harrys Aufmerksamkeit auf sich zog. Er ähnelte seiner Mutter, hatte ihr breites, offenes Lächeln, und sein Blick strahlte eine sanfte Schönheit aus. Aber er ähnelte nicht nur seiner Mutter. Die großen weißen Zähne …
Harry ging zum Ofen, weil ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief. Dieser beißende Fleischgeruch … Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, tief und ruhig durch die Nase zu atmen, aber ihm wurde trotzdem schlecht.
In diesem Augenblick trampelte Bellman mit einem breiten Grinsen ins Wohnzimmer. »Ich hoffe, Sie mögen Hirsch.«
Harry wurde wach und fragte sich, was ihn geweckt hatte. Hatte er etwas gehört? Oder war es das Fehlen von Geräuschen gewesen? Es war vollkommen still. Auch der Wind hatte sich gelegt. Er schlug die Wolldecke zur Seite, stand vom Sofa auf, ging zum Fenster und schaute nach draußen. Die Landschaft war wie verwandelt. Wo vor sechs Stunden noch eine harte, gnadenlose Einöde gewesen war, breitete sich die Gebirgslandschaft weich, mütterlich, fast schön, in magisches Mondlicht getaucht vor ihm aus. Erst einen Augenblick später bemerkte Harry, dass sein Blick auf Spuren im Schnee gerichtet war. Dann hatte er also doch ein Geräusch gehört. Es konnte alles Mögliche gewesen sein. Ein Vogel. Ein Tier. Er lauschte und hörte ein leises Schnarchen hinter einer der Schlafzimmertüren. Bellman war es also nicht gewesen. Die Fußspuren führten von der Hütte zum Vorratshaus. Oder vom Vorratshaus zur Hütte? Wahrscheinlich in beide Richtungen, es waren ziemlich viele. Oder stammten sie doch von Bellman, der vor sechs Stunden zwischen Hütte und Vorratskammer hin- und hergelaufen war? Wann hatte es zu schneien aufgehört?
Harry stieg in seine Boots, trat ins Freie und blickte zum Klohäuschen hinüber. Dorthin führte keine Spur. Er kehrte dem Vorratshaus den Rücken zu, pinkelte gegen die Hüttenwand und fragte sich mit einem Mal, warum das eigentlich so war, warum pinkelten Männer immer gegen irgendetwas? Waren das die Überbleibsel eines
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