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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Gewalt.«
    »Er hat seine Frau geschlagen?«
    »Nein, ich glaube nicht, dass er Hand an sie gelegt hat. Oder Grund dazu hatte. Aber die, die sie zu lange angesehen haben, hingegen …«

KAPITEL 61
     
    Fallhöhe
     
    H arry und Bellman lagen auf dem Bauch am Rand des Abgrundes, in dem die Scooterspur verschwand. Sie starrten nach unten. Schwarze, steil abfallende Felswände schnitten in die Tiefe und verschwanden weit unten im Schneetreiben, das immer dichter wurde.
    »Sehen Sie was?«, fragte Bellman.
    »Schnee«, sagte Harry und reichte ihm das Fernglas.
    »Der Scooter ist da unten.« Bellman stand auf und ging zurück zu ihrem eigenen Schneescooter. »Wir klettern runter.«
    »Wir?«
    »Sie.«
    »Ich? Ich dachte, Sie wären von uns beiden der Kletterer, Bellman.«
    »Korrekt«, sagte Bellman, der bereits dabei war, sich den Klettergurt anzulegen. »Und darum ist es nur logisch, dass ich Sie sichere. Das Seil ist siebzig Meter lang. Ich lass Sie runter, so weit es geht. Okay?«
    Sechs Minuten später stand Harry mit dem Rücken zum Abgrund an der Felskante, das Fernglas um den Hals und eine Zigarette im Mundwinkel.
    »Nervös?« Bellman grinste.
    »Nix«, sagte Harry. »Ich hab eine Scheißangst.«
    Bellman kontrollierte, dass das Seil sauber über die Seilklemme lief und um den dünnen Baumstamm hinter ihnen und zu Harrys Klettergurt.
    Harry schloss die Augen, atmete tief ein und konzentrierte sich ganz auf das Zurücklehnen, um den evolutionsbedingten Wi derstand zu überwinden, der auf der Erfahrung von Millionen von Jahren basierte, dass der Fortbestand der Art gefährdet ist, wenn man sich in einen Abgrund stürzt.
    Das Gehirn siegte mit minimalem Vorsprung über den Körper.
    Auf den ersten Metern konnte er sich noch mit den Füßen an der Felswand abstützen, doch als der Überhang stärker wurde, hing er plötzlich frei in der Luft. Das Seil gab ruckweise nach, aber die Elastizität dämpfte die Spannung der Klettergurte im Kreuz und in der Leiste. Nach und nach wurde die Abwärtsbewegung gleichmäßiger, und kurz darauf konnte Harry die Felskante über sich nicht mehr erkennen. Er war allein, frei schwebend zwischen weißen Schneeflocken und schwarzen Felswänden.
    Schließlich lehnte er sich zur Seite und schaute nach unten. Zwanzig Meter unter ihm ragten schwarze Felszacken aus dem Schnee. Eine steile Geröllhalde. Und mitten in dem Schwarz und Weiß: etwas Gelbes.
    »Ich sehe den Scooter!«, rief Harry nach oben. Das Echo hallte zwischen den Felswänden wider. Die Maschine lag auf dem Kopf, die Skikufen zeigten nach oben. Wenn er selbst und das Seil nicht allzu stark vom Wind bewegt wurden, befand sich der Scooter nur knapp drei Meter von ihm weg. Über siebzig Meter tief. Der Scooter musste mit ungewöhnlich niedrigem Tempo über die Kante gefahren sein.
    Das Seil straffte sich abrupt.
    »Weiter runter!«, rief Harry.
    Die hallende Antwort tönte wie von einer Kanzel: »Das Seil ist zu Ende.«
    Harry starrte zu dem Scooter. Auf der linken Seite ragte etwas heraus. Ein nackter Arm. Schwarz, aufgedunsen, wie eine Wurst, die zu lange auf dem Grill gelegen hatte. Eine weiße Hand auf schwarzem Stein. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Offene Handfläche der rechten Hand. Die Finger. Gekrümmt. Knotig. Harrys Hirn spulte zurück. Was hatte Tony Leike über sein Leiden gesagt? Nicht ansteckend, nur erblich. Gicht.
    Harry schaute auf die Uhr. Ermittlerreflex. Zeitpunkt des Leichenfundes: 17.54 Uhr. Die Dunkelheit senkte sich zwischen den Felswänden auf die Geröllhalde.
    »Hoch!«, rief Harry.
    Nichts tat sich.
    »Bellman?«
    Keine Antwort.
    Ein Windstoß brachte Harry an seinem Seil zum Trudeln. Schwarze Felsen. Zwanzig Meter. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, begann sein Herz wie wild zu hämmern. Er umschloss automatisch mit beiden Händen das Seil fester, als wollte er sich versichern, dass es noch da war. Kaja. Bellman wusste es.
    Harry holte dreimal tief Luft, bevor er erneut rief:
    »Es wird dunkel, der Wind frischt auf, und ich frier mir die Eier ab, Bellman. Höchste Zeit, ins Warme zu kommen!«
    Immer noch keine Antwort. Harry schloss die Augen. Hatte er Angst? Angst, dass ihn ein scheinbar rational denkender Kollege aus einer spontanen Eingebung heraus umbrachte, weil die Umstände dafür mit einem Mal günstig waren? Verdammt, ja, er hatte Angst. Und glaubte ganz und gar nicht an eine spontane Eingebung. Es war kein Zufall, dass Bellman als Einziger zurückgeblieben war, um

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