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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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niedrig stehende Nachmittagssonne spiegelte sich in den Glaszacken der zerschlagenen Scheiben in der Backsteinfassade. Es herrschte eine Atmosphäre der Ruhe und Verlassenheit, wie man sie nur in stillgelegten, menschenleeren Fabriken findet, in denen ursprünglich alles auf hektische, effektive Aktivität ausgelegt gewesen war. Das Echo von Eisen auf Eisen, die Rufe, Flüche und das Gelächter schwitzender Männer an dröhnenden Maschinen hallten stumm zwischen den Wänden wider. Wind fegte durch die verrußten, ausgeschlagenen Fensteröffnungen herein und versetzte die Spinnweben mit ihren leblosen Insektenhüllen in Schwingung.
    An der großen Eingangstür zur Fabrikhalle hing kein Schloss. Die fünf Männer durchquerten den länglichen, kirchenschiffartigen Raum, der wie der Schauplatz einer Evakuierung wirkte. Überall lagen Werkzeuge herum, eine Palette mit weißen Eimern mit der Aufschrift PSG TYPE 3 stand abholbereit da, und über einem Stuhlrücken hing ein blauer Arbeitskittel.
    Etwa in der Mitte der Halle blieben sie stehen. In der einen Ecke stand auf einem etwa einen Meter hohen Sockel eine Art Pavillon, geformt wie ein Leuchtturm. Wahrscheinlich für den Vor arbeiter, dachte Harry. Weiter oben an den Wänden führte eine Galerie um die ganze Halle herum. Sie mündete an einem Ende in einer Zwischenetage, auf der sich einige Räume befanden. Harry vermutete dort den Pausenraum und die Verwaltung.
    »Wo fangen wir an?«, fragte Harry.
    »Wie immer«, sagte Bjørn Holm und sah sich um. »Oben links in der Ecke.«
    »Und wonach suchen wir?«
    »Einem Tisch, einer Bank mit blauem Eternit. Die Flecken am Hosenboden sind etwas unterhalb der Gesäßtaschen, sie hat also gesessen, mit abwärts angewinkelten Beinen, nicht flach gelegen.«
    »Wenn ihr hier unten anfangt, gehe ich mit dem Beamten und dem Bolzenschneider nach oben«, sagte Harry.
    »Aha?«
    »Um euch Burschen von der Technik die Türen zu öffnen. Wir versprechen auch, kein Sperma zu hinterlassen.«
    »Sehr komisch. Nichts …«
    »… anfassen.«
    Als Harry und der Beamte, dessen Namen er längst vergessen hatte und den er deshalb nur »der Beamte« nannte, über die Wendeltreppe nach oben stiegen, stimmten die Metallstufen ein heiseres Lied an. Die Türen, an denen sie vorbeikamen, waren unverschlossen. Es handelte sich, wie Harry vermutet hatte, um leere Büroräume, einen Garderobenraum mit einer Reihe Metallspinde und einen großen Gemeinschaftsduschraum. Aber nirgendwo waren blaue Flecken zu sehen.
    »Was ist das da?«, fragte Harry, als sie im Pausenraum standen. Er zeigte auf eine schmale Tür mit einem Vorhängeschloss an der hinteren Wand.
    »Die Speisekammer«, sagte der Beamte, er war bereits auf dem Weg nach draußen.
    »Warten Sie!«
    Harry ging zu der Tür. Kratzte mit dem Nagel über das verrostete Schloss. Der Rost war echt. Er drehte es um, sah sich den Schließzylinder an. Kein Rost.
    »Aufschneiden«, sagte Harry.
    Der Beamte tat, worum er gebeten worden war. Harry zog die Tür auf.
    Der Beamte schnalzte mit der Zunge.
    »Alles nur Tarnung«, sagte Harry.
    Hinter der Tür war weder eine Speisekammer noch sonst ir gendein Raum, sondern eine weitere, mit einem soliden Schloss versehene Tür.
    Der Beamte stellte den Bolzenschneider weg.
    Harry schaute sich um und fand schnell, wonach er gesucht hatte. Gut sichtbar an der Wand des Pausenraumes hing ein großer, roter Feuerlöscher. Øystein hatte mal erzählt, dass der Stoff, den sie in der Fabrik produzierten, in der sein Vater gearbeitet hatte, so hochentzündlich war, dass die Arbeiter nur draußen am Fluss rauchen durften und die Kippen im Wasser entsorgen mussten.
    Er nahm den Feuerlöscher von der Wand und trug ihn zu der Tür. Dann nahm er zwei Schritte Anlauf, zielte und schwang den Feuerlöscher wie einen Rammbock vor sich her gegen das Schloss.
    Rundherum bildeten sich Risse, die Tür klammerte sich aber weiter hartnäckig an den Rahmen.
    Als Harry den Angriff wiederholte, flogen Holzsplitter durch die Luft.
    »Was ist da oben los?«, hörten sie Bjørn aus der Fabrikhalle heraufrufen.
    Beim dritten Versuch kreischte die Tür resigniert und schwang auf. Sie starrten in kohlschwarze Finsternis.
    »Kann ich mal Ihre Taschenlampe haben?«, sagte Harry, legte den Feuerlöscher auf den Boden und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Danke. Warten Sie hier.«
    Harry trat über die Schwelle. Es roch nach Ammoniak. Der Lichtkegel huschte über die Wände. Der Raum – den er auf

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