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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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sagte er und nahm ihre Hand. »Komm.«
    »Aber …«, sagte sie, drehte sich um und sah, dass der Metallkoffer bereits entfernt worden war.
    Sie gingen die Treppe hoch und durch eine Tür in ein großes, helles Schlafzimmer. Lange, hauchdünne Gardinen bewegten sich sanft in der milden Brise, die von der Terrasse hereinwehte.
    »Hast du geschlafen?«, fragte sie und musterte das nicht gemachte Himmelbett.
    »Nein«, sagte er mit einem Lächeln. »Setz dich hierher und schließ die Augen.«
    »Aber …«
    »Tu einfach, was ich sage, Lene.«
    Sie glaubte, einen Anflug von Verärgerung in seiner Stimme zu hören, und beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen.
    »Sie bringen gleich den Champagner, und dann will ich dich etwas fragen. Aber erst möchte ich dir eine Geschichte erzählen. Bist du bereit?«
    »Ja«, sagte sie und wusste es. Wusste, dass dies der Moment war, auf den sie so lange gewartet hatte. Der Moment, an den sie sich für den Rest ihres Lebens erinnern würde.
    »Die Geschichte, die ich dir erzählen will, handelt von mir. Es gibt nämlich ein paar Sachen, die du über mich wissen solltest, bevor du meine Frage beantwortest …«
    »Ja, dann.« Es fühlte sich an, als perle der Champagner bereits durch ihre Adern, sie musste sich konzentrieren, um nicht loszulachen.
    »Ich habe dir erzählt, dass ich bei meinem Großvater aufgewachsen bin, weil meine Eltern tot waren. Was ich dir nicht erzählt habe, ist, dass ich bei ihnen gewohnt habe, bis ich fünfzehn war.«
    »Ich wusste es!«, platzte sie heraus.
    Tony zog eine Augenbraue hoch. Eine delikat geformte, unglaublich hübsche Augenbraue, wie sie fand.
    »Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass du ein Geheimnis hast, Tony«, sagte sie lachend. »So wie auch ich ein Geheimnis habe. Ich will, dass wir alles übereinander wissen! Alles!«
    Tony lächelte schief. »Dann, liebe Lene, lass mich weiterreden, ohne mich zu unterbrechen. Meine Mutter war sehr fromm, sie hat meinen Vater in einem Gemeindehaus kennengelernt. Er war gerade entlassen worden, nachdem er eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, weil er aus Eifersucht jemanden ermordet hatte. Im Gefängnis hatte er den Weg zu Jesus gefunden. Für meine Mutter war das wie ein Stück aus der Bibel: ein reuiger Sünder, ein Mann, dem sie zu Erlösung und ewigem Leben verhelfen und dabei gleichzeitig für ihre eigenen Sünden büßen konnte. So hat sie mir erklärt, warum sie dieses Schwein überhaupt geheiratet hat.«
    »Was …?«
    »Psst! Mein Vater kompensierte den Mord, indem er alles, was kein Lobpreis Gottes war, als Sünde betrachtete. Mir war alles verboten, was andere Kinder durften. Widersprach ich ihm, bekam ich seinen Gürtel zu schmecken. Er provozierte mich gerne, sagte, die Sonne kreise um die Erde, das stünde so in der Bibel. Protestierte ich, kriegte ich Prügel. Irgendwann mit zwölf war ich zusammen mit meiner Mutter draußen im Klohäuschen. Wir haben das immer so gemacht. Als wir heraus kamen, schlug er mich mit einem scharfen Spaten, weil er das für eine Sünde hielt. Er meinte, ich sei zu alt, um gemeinsam mit meiner Mutter aufs Klo zu gehen. Er hat mich fürs Leben gezeichnet.«
    Lene schluckte, während Tony mit seinem verkrümmten, gichtigen Zeigefinger über den oberen Rand der Narbe auf seiner Brust fuhr. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass sein Mittelfinger fehlte.
    »Tony! Was ist …«
    »Psst! Ich war fünfzehn Jahre alt, als mein Vater mich das letzte Mal verprügelte. Er benutzte seinen Gürtel 23 Minuten lang ohne Pause. 1392 Sekunden. Ich habe sie gezählt. Er hat alle vier Sekunden zugeschlagen, wie ein Uhrwerk. Geschlagen und geschlagen, wobei er immer mehr in Rage geriet, weil ich nicht zu weinen anfing. Zum Schluss war sein Arm so lahm, dass er aufgeben musste. 348 Schläge. In der folgenden Nacht habe ich gewartet, bis ich sein Schnarchen hörte, dann bin ich ins Schlafzimmer geschlichen und habe ihm einen Tropfen Säure ins Auge getropft. Er schrie wie am Spieß, während ich ihn festhielt und ihm ins Ohr flüsterte, dass ich ihn töten würde, wenn er mich noch einmal anrührte. Ich spürte ihn in meinen Armen erstarren und wusste mit einem Mal, dass ich jetzt stärker als er war. Er hat damals verstanden, dass ich das in mir habe.«
    »Was denn, Tony.«
    »Ihn, den Mörder.«
    Lenes Herz blieb stehen. Das konnte nicht sein. Durfte nicht wahr sein. Er hatte ihr doch gesagt, dass er unschuldig war, dass sie sich irrten.
    »Nach diesem Tag umkreisten wir uns wie

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