Leopard
einem Mal, was geschehen würde, und wollte sich umdrehen, aber es war zu spät, denn er befand sich exakt an dem Ort, an dem der unsichtbare Regisseur ihn haben wollte.
Die Bewegung hinter sich ahnte er mehr, als dass er sie sah, und den präzisen Stich in den Hals spürte er gar nicht, wohl aber den Atem an seiner Schläfe, die plötzliche Kälte in seinem Nacken und die Lähmung, die von der Wirbelsäule in den Kopf stieg, bis die Beine unter ihm nachgaben, der Stoff sein Hirn erreichte und er das Bewusstsein verlor. Bevor alles um ihn herum dunkel wurde, meldete sich noch ein letzter Gedanke: wie verblüffend schnell Ketanomin wirkte.
KAPITEL 84
Wiedervereinigung
K aja biss sich auf die Unterlippe. Irgendetwas stimmte nicht.
Noch einmal wählte sie Harrys Nummer, erreichte aber wieder nur seinen Anrufbeantworter.
Fast drei Stunden saß sie schon in der Ankunftshalle des Flughafens – die eigentlich auch die Abflughalle war –, und der Plastikstuhl malträtierte jeden Körperteil, mit dem er in Berührung kam.
Sie hörte das Brummen eines Flugzeugs und sah gleich darauf auf dem einzigen Monitor der Halle, einem verbeulten Kasten, der zwischen zwei Ventilatoren unter der Decke hing, dass Flug KJ 337 aus Zürich gelandet war.
Alle zwei Minuten hatte sie die Personen in der Halle mit ihrem Blick gescannt und war sich sicher, dass Tony Leike nicht darunter war.
Sie wählte noch einmal Harrys Nummer, unterbrach die Verbindung aber, als sie bemerkte, dass es keine bewusste Handlung, sondern bloße Apathie war.
Die Schiebetüren zu den Gepäckbändern gingen auf, und die Passagiere, die nur Handgepäck bei sich hatten, kamen heraus. Kaja stand auf und stellte sich so neben die Schiebetür, dass sie die Namen auf den Plastikschildern lesen konnte, die die Taxifahrer den Neuankömmlingen entgegenstreckten. Es wurde weder eine Juliana Verni noch eine Lene Galtung erwartet.
Kaja ging zurück zu ihrem Aussichtsposten auf dem Stuhl und setzte sich auf ihre schweißnassen Hände. Was sollte sie tun? Sie setzte die große Sonnenbrille auf und spähte zu den Schiebetüren.
Sekunden vergingen, nichts geschah.
Lene Galtung war hinter der violetten Sonnenbrille und dem großen Schwarzen, der direkt vor ihr ging, kaum zu sehen. Ihre Haare lockten sich rot über ihre Jeansjacke, zu der sie eine khakifarbene Hose und solide Bergschuhe trug. Sie zog einen Rollkoffer hinter sich her, der gerade noch als Handgepäck durchging. Statt einer Handtasche hatte sie einen kleinen, blanken Metallkoffer.
Nichts geschah. Oder alles. Parallel und gleichzeitig, Vergangenheit und Gegenwart. Auf irritierende Weise verstand Kaja, dass die Gelegenheit endlich gekommen war. Die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Die Chance, das Richtige zu tun.
Sie schaute nicht in Lene Galtungs Richtung, achtete aber darauf, sie nicht aus ihrem Blickfeld zu verlieren. Sie stand ruhig auf, als Lene vorbeigegangen war, nahm ihre Tasche und ging durch den Ausgang nach draußen in das grelle Sonnenlicht. Noch war Lene von niemandem angesprochen worden, und ihren schnellen, entschlossenen Schritten entnahm Kaja, dass sie genau instruiert worden war, was sie tun sollte. Lene Galtung ging an den wartenden Taxis vorbei, überquerte die Straße und kletterte auf den Rücksitz eines dunkelblauen Range Rover. Ein schwarzer Mann in einem Anzug hielt ihr die Tür auf. Nachdem er sie hinter ihr geschlossen hatte, ging er um das Auto herum zum Fahrersitz. Kaja schlüpfte auf den Rücksitz des ersten Taxis in der Warteschlange, beugte sich zwischen den Sitzen vor, dachte kurz nach, realisierte dann aber, dass es kaum eine andere Möglichkeit gab zu formulieren, was sie sagen wollte: »Follow the car.«
Sie begegnete dem Blick des Fahrers und zog die Augenbrauen hoch. Sie zeigte auf das Auto vor ihnen, und der Fahrer nickte, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sie verstand, fuhr aber trotzdem noch nicht los.
»Double pay«, sagte Kaja.
Der Fahrer nickte und ließ die Kupplung kommen.
Kaja rief Harry an. Noch immer keine Antwort.
Sie rollten langsam über die Hauptstraße in Richtung Westen. Die Straßen waren voller Lastwagen, Kleintransporter und mit Koffern bepackter Autos. Auf beiden Seiten der Straße trugen Menschen in großen Bündeln ihr Hab und Gut auf dem Kopf mit sich herum, so dass der Verkehr an manchen Stellen ganz zum Erliegen kam. Der Fahrer hatte seine Aufgabe allem Anschein nach verstanden und sorgte dafür, immer mindestens ein Auto
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