Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Kiefer nach den Geschehnissen in Hongkong gerade noch zusammenhielt. Er würde es nicht schaffen, sich selbst fest genug zu schlagen, das musste das Gewicht seines Körpers für ihn erledigen. Prüfend fuhr er mit dem Zeigefinger über den Kopf des Nagels mit dem Geldschein. Er ragte etwa vier Zentimeter aus der Wand. Ein normaler Nagel mit großem, breitem Kopf. Er würde alles zerschmettern, was sich ihm in den Weg stellte, wenn es nur mit ausreichender Wucht auf ihn traf. Harry zielte, legte den Kiefer versuchsweise an den Nagel und richtete sich etwas auf, um den Winkel zu berechnen, in dem er auf ihn fallen musste. Wie tief er eindringen musste. Und wie tief er nicht vordringen durfte. Nacken, Nerven, Lähmung. Er kalkulierte. Nicht kalt und ruhig. Aber sachlich. Zwang sich dazu. Der Nagelkopf war nicht gerade wie der Querstrich eines T, er wölbte sich leicht nach innen zur Wand, so dass die Wirkung vielleicht nicht gleich hundertprozentig sein würde. Zum Schluss fragte er sich noch, ob er wirklich an alles gedacht hatte, bis er begriff, dass sein Hirn nur Zeit zu gewinnen versuchte.
    Harry holte tief Luft.
    Sein Körper wollte nicht. Er protestierte, stemmte sich dagegen. Wollte den Kopf nicht fallen lassen.
    »Idiot!«, versuchte Harry zu rufen, aber der Apfel erstickte alle Laute.
    Er spürte eine heiße Träne über seine Wange rinnen.
    Genug geheult, dachte er, es ist an der Zeit, ein bisschen zu sterben.
    Dann ließ er den Kopf fallen.
    Der Nagel drang schmatzend in seine Wange.
     
    Kaja tastete nach dem Handy. Die Carpenters hatten gerade ein dreistimmiges Stop! gesungen, gefolgt von Karen Carpenters Oh. Yeah wait a minute. Ihr SMS -Klingelton.
    Draußen war es schnell und brutal dunkel geworden. Sie hatte drei Nachrichten an Harry gesendet. Erzählt, was geschehen war, dass sie auf einer Straße vor der Villa stand, in der Lene Galtung verschwunden war, und auf weitere Nachrichten und vor allem ein Lebenszeichen von ihm wartete.
     
    Gute Arbeit. Holst du mich in der Straße südlich der Kirche ab. Die ist leicht zu finden. Es ist das einzige Steinhaus. Geh einfach rein, es ist offen, Harry
     
    Sie gab die Adresse an den Taxifahrer weiter, der gähnend nickte und den Motor anließ.
    Kaja tippte »Bin unterwegs«, als sie Richtung Norden über die beleuchteten Straßen fuhren. Der Vulkan erhellte den Nachthimmel wie eine Glühlampe, ließ die Sterne verblassen und tauchte alles in einen diffusen, blutroten Schimmer.
    Eine Viertelstunde später befanden sie sich auf einer Straße, die einem Bombenkrater glich. Vor einem Laden hingen ein paar Öllampen. Entweder war der Strom wieder abgeschaltet worden, oder in dieser Gegend gab es gar keinen.
    Der Fahrer hielt an und zeigte auf ein Haus. Van Boorst. Es war tatsächlich ein kleines Steinhaus. Kaja sah sich um. Etwas weiter die Straße hinauf standen zwei Range Rover. Zwei knatternde Mopeds fuhren mit flackerndem Licht vorbei, und aus einer Tür dröhnten harte afrikanische Discorhythmen. Sie sah Zigaretten aufglühen und weiße Augen.
    »Wait here«, sagte Kaja, stopfte ihre Haare unter die Schirmmütze und überhörte die Warnungen des Fahrers, als sie ausstieg.
    Sie ging schnell und direkt auf das Haus zu. Machte sich keine falschen Vorstellungen, welche Chancen eine einzelne weiße Frau nach Einbruch der Dunkelheit in Goma hatte, doch in diesem Augenblick war die Dunkelheit tatsächlich ihr bester Freund.
    Sie sah die Tür zwischen den schwarzen Lavabrocken und wusste, dass sie sich beeilen musste. Sie waren auf dem Weg, sie musste ihnen zuvorkommen. Fast wäre sie gestolpert, aber sie ging geradeaus weiter und atmete durch den geöffneten Mund. Dann war sie da. Legte die Hand auf die Türklinke. Obgleich die Temperatur nach Sonnenuntergang überraschend schnell gesunken war, rann Schweiß in Bächen zwischen den Schulterblättern und ihren Brüsten herunter. Sie zwang ihre Hand, die Klinke nach unten zu drücken. Lauschte. Es war so seltsam still. Genauso still wie damals …
    Ihr Hals schnürte sich zusammen.
    »Komm schon«, ermahnte sie sich flüsternd. »Nicht jetzt.«
    Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf ihren Atem. Verdrängte alle Gedanken aus ihrem Hirn. Sie wollte es schaffen.
     
    Die Bilder verschwanden. Delete, delete . Nur ein letzter kleiner Gedanke wollte nicht gehen, aber es fehlte nicht mehr viel …
     
    Harry wurde davon wach, dass es in seinem Mundwinkel zuckte. Er öffnete die Augen. Es war dunkel. Er musste

Weitere Kostenlose Bücher