Leopard
wurde kein Höhepunkt, ganz im Gegenteil.«
Seide raschelte.
»Ich hatte weniger Freude daran, ihn zu foltern, als ich erhofft hatte. Er hat mich nicht einmal wiedererkannt, dieser blinde Idiot. Aber das war egal. Eigentlich wollte ich doch, dass er in mir das sah, was er selbst nie erreicht hat. Den Erfolg. Ich wollte ihn demütigen. Stattdessen bekam er mich als das zu sehen, was er selber war. Als Mörder.« Er seufzte. »Irgendwann wurde mir klar, dass er mit niemandem zusammengearbeitet hatte. Andererseits hatte er nicht die Möglichkeit, so etwas allein durchzuziehen, dafür war er zu jämmerlich, zu ängstlich, zu feige. Das Auslösen der Lawine oberhalb der Håvasshütte geschah in Panik. Weil ich jetzt wusste, dass es ein anderer war. Ein unsichtbarer, lautloser Jäger, der irgendwo im Dunkeln wartete und im Takt mit mir atmete. Ich musste weg. Außer Landes. Irgendwohin, wo mich niemand finden würde. Und so bin ich hier gelan det, Liebste. Am Rande eines Dschungels von der Größe Westeuropas.«
Lenes Körper zitterte unkontrolliert. »Warum tust du das, Tony? Warum erzählst du mir das alles?«
Sie spürte seine Hand auf ihrer Wange. »Weil du es verdienst, Liebste. Weil du Galtung heißt und an deinem Grab eine lange Gedenkrede bekommen sollst. Außerdem finde ich es richtig, dass du alles über mich weißt, bevor du mir deine Antwort gibst.«
»Meine Antwort worauf?«
»Ob du mich heiraten willst?«
In ihrem Kopf drehte sich alles. »Ob ich … ich …«
»Mach deine Augen auf, Lene.«
»Aber ich …«
»Mach sie auf, sage ich.«
Sie tat, was er sagte.
»Der ist für dich«, sagte er.
Lene Galtung schrak entsetzt auf.
»Er ist aus Gold«, sagte Tony. Das Sonnenlicht glänzte matt auf dem gelbbraunen Metall, das auf einem Blatt Papier auf dem Salontisch neben ihnen lag. »Ich will, dass du ihn trägst.«
»Trägst?«
»Natürlich, nachdem du unseren Ehevertrag unterschrieben hast.«
Lene schlug mit den Augenlidern, immer wieder. Versuchte aus diesem Albtraum aufzuwachen. Die Hand mit den verkrümmten Fingern kroch über den Tisch und legte sich auf ihre Hand. Sie schlug den Blick nieder und sah das Muster auf der burgunderroten Seide seines Morgenmantels.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Das Geld, das du mitgebracht hast, reicht nur für begrenzte Zeit, aber durch die Ehe mit dir steht mir nach deinem Tod ein gewisser Pflichtteil zu. Du fragst dich, ob ich dich umbringen will, nicht wahr?«
»Willst du?«
Tony lachte leise und drückte ihre Hand. »Und du? Willst du dich mir in den Weg stellen, Lene?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte doch nur für ihn da sein wollen. Für ihn. Wie in Trance nahm sie den Stift, den er ihr reichte. Führte ihn zum Papier. Ihre Tränen tropften auf die Unterschrift und ließen sie zerfließen. Er schnappte sich das Formular.
»Alles ist gut«, sagte er, blies über das Blatt und nickte in Richtung Salontisch. »Und jetzt ziehen wir den da an.«
»Wie meinst du das, Tony? Das ist doch kein Ring?«
»Ich meine damit, dass du den Mund aufmachen sollst, Lene.«
Harry blinzelte. Eine einzelne, nackte Glühbirne hing von der Decke. Er lag auf dem Rücken auf einer Matratze. Ohne Kleider. Es war der Traum, den er schon oft geträumt hatte, nur dass er nicht träumte. Über ihm ragte ein Nagel aus der Wand, und auf dem Nagel steckte der Kopf von Edvard Munch. Ein norwegischer Geldschein. Er sperrte den Mund so weit auf, dass sein schief zusammengewachsener Kiefer zu brechen drohte, aber trotzdem spannte sich alles und übte einen solchen Druck aus, als würde sein Kopf zerspringen. Er träumte nicht. Die Wirkung des Ketanomin wurde schwächer, und die Schmerzen ließen keinen Platz für weitere Träume. Wie lange lag er schon da? Wie lange würde es dauern, bis die Schmerzen ihn in den Wahnsinn trieben? Vorsichtig drehte er den Kopf und sah sich im Raum um. Er war noch immer bei van Boorst, und er war allein. Er war nicht gefesselt und konnte aufstehen, wenn er wollte.
Sein Blick folgte der Schnur, die an der Klinke der Haustür befestigt war. Sie führte gespannt durch den Raum zur Wand hinter ihm. Behutsam drehte er den Kopf in die andere Richtung. Sie führte durch einen U-förmigen Nagel, der hinter seinem Kopf in der Wand steckte und von dort zu seinem Mund. Zu dem Leopoldsapfel. Er war festgebunden. Die Tür ging nach außen auf, so dass der Erstbeste, der sie öffnete, den Nadelmechanismus auslösen würde, der dann von innen seinen
Weitere Kostenlose Bücher