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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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gefunden, die mit ihrem Trainingsanzug übereinstimmen könnten, an der Stelle, an der sie vermutlich ins Bad geklettert ist. Sonst waren keine weiteren Spuren vorhanden, weshalb man wohl davon ausgeht, dass sie allein war.«
    Harry inhalierte tief. Der Kopf wurde glatt abgerissen . Diese Journalisten redeten, wie sie schrieben, in umgekehrter Pyramidenform, wie sie es nannten: die wichtigste Info zuerst.
    »Dann ist es wohl heute Nacht passiert?«, versuchte Harry sich.
    »Oder gestern Abend. Nach Aussage ihres Mannes ist Marit Olsen gestern Abend um Viertel vor zehn zum Joggen aufgebrochen.«
    »Ganz schön spät zum Joggen.«
    »Das scheint sie immer so gemacht zu haben. Sie hatte den Park gerne für sich.«
    »Hm.«
    »Ich hab auch schon versucht, den Hausmeister aufzutreiben, der sie gefunden hat.«
    »Warum?«
    Gjendem sah Harry überrascht an. »Na, um eine Beschreibung aus erster Hand zu erhalten.«
    »Natürlich«, sagte Harry und zog erneut an seiner Zigarette.
    »Aber der scheint untergetaucht zu sein, er ist weder hier noch zu Hause. Der Arme soll einen Schock haben.«
    »Tja. Es ist nicht das erste Mal, dass er eine Leiche im Sprungbecken findet. Ich denke, die Ermittlungsleitung hat ihn abgeschirmt.«
    »Wie meinen Sie das? Nicht das erste Mal?«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Ich war schon zwei oder drei Mal hier. Jedes Mal waren es Jugendliche, die nachts hier eingedrungen sind. Einmal war es ein Selbstmord, beim zweiten Mal ein Unfall. Vier Freunde, alle betrunken, auf dem Nachhauseweg. Sie wollten einfach noch ein bisschen Spaß und haben gewettet, wer sich am weitesten auf das Sprungbrett raustraut. Der Sieger ist gerade mal neunzehn Jahre alt geworden. Der älteste der Jungs war sein großer Bruder.«
    »Verdammt«, sagte Gjendem pflichtschuldig.
    Harry blickte auf die Uhr, als hätte er noch einen Termin.
    »Das muss eine Wahnsinnskraft gewesen sein, die auf das Tau eingewirkt hat«, sagte Gjendem. »Glatt abgerissen. Haben Sie jemals so etwas gehört?«
    »Tom Ketchum«, sagte Harry, kippte den Rest seines Kaffees in einem Schluck herunter und stand auf.
    »Ketchum?«
    »Ketchum. Die Hole-in-the-Wall-Gang. Wurde 1901 in New Mexico gehängt. Ein ganz gewöhnlicher Galgen, nur dass das Seil etwas zu lang war.«
    »Oje. Wie lang denn?«
    »Etwas über zwei Meter.«
    »Mehr nicht? Der muss ja wahnsinnsdick gewesen sein?«
    »Im Gegenteil, es sagt nur etwas darüber aus, wie schnell man seinen Kopf verlieren kann, stimmt’s?«
    Gjendem rief ihm noch etwas nach, aber Harry bekam es nicht mehr mit. Er ging über den Parkplatz zur Nordseite des Bades, weiter durch den Park und bog nach links über die Brücke zum Eingang ab. Der Zaun war überall gut zweieinhalb Meter hoch. Hundertundfünfzigkiloklasse . Mag sein, dass Marit Olsen es versucht hatte, aber ohne fremde Hilfe wäre sie niemals über diesen Zaun gekommen.
    Hinter der Brücke ging Harry nach links, so dass er sich von der anderen Seite wieder dem Bad näherte. Er machte einen großen Schritt über das orange Absperrband der Polizei und blieb auf einem kleinen Hügel vor einem Busch stehen. Harry hatte in den letzten Jahren erschreckend viel vergessen. Aber seine Fälle hatten sich mit allen Details in sein Hirn eingebrannt. Er erinnerte sich sogar noch an die Namen der vier Jugendlichen auf dem Sprungturm. Den Tausendmeterblick des großen Bruders, als er tonlos Harrys Fragen beantwortete. Und an die Hand, die ihm gezeigt hatte, wie sie in das Bad gekommen waren.
    Harry achtete darauf, keine Spuren zu zerstören, sollte es denn welche geben, und schob die Zweige des Busches auseinander. Die Unterhaltsarbeiten der Osloer Parkverwaltung schienen einen langen Planungsvorlauf zu haben. Das Loch im Zaun war noch immer da.
    Harry ging in die Hocke, studierte die spitzen Zaunenden und entdeckte dunkle Fasern. Hier hatte sich niemand elegant durch das Loch geschlichen, sondern hindurchgepresst. Wenn er nicht gar gepresst worden war. Harry hielt nach anderen Spuren Ausschau. An einem Draht am oberen Ende des Loches hing ein schwarzer, langer Wollfaden. Wer immer diesen Faden verloren hatte, musste aufrecht vor dem Zaun gestanden haben. Der Faden hing in Kopfhöhe. Das passte zur Wolle, eine Mütze vielleicht. Hatte Marit Olsen eine Wollmütze getragen? Laut Roger Gjendem war sie abends um Viertel vor zehn zum Joggen in den Park gegangen. Wie üblich, hatte er gesagt.
    Harry versuchte sich die Szene vorzustellen. Ein ungewöhnlich milder Abend im

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