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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Gerichtsmediziners. Ließ den Blick über die Seite schweifen, musste dann aber noch einmal an den obe ren Rand des Blattes zurückkehren, um sich zu vergewissern, dass er wirklich Charlottes Bericht las und nicht noch einmal den von Borgny. Betäubungsmittel. 24 Einstiche in der Mundhöhle. Tod durch Ertrinken. Keine weitere äußere Gewalteinwirkung, kein Zeichen eines sexuellen Übergriffs. Der einzige Unterschied bestand im Zeitpunkt des Todes. Der lag zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Aber auch dieses Mal verwies eine Anmerkung auf Spuren von Eisen und Koltan an den Zähnen des Opfers. Vermutlich weil die Kriminaltechniker im Nachhinein erkannt hatten, dass das Relevanz für den Fall haben konnte, da es bei beiden Opfern gefunden worden war. Koltan. War der Schwarzenegger-Roboter nicht aus diesem Material zusammengeschraubt worden?
    Harry war hellwach. Er hockte auf der vorderen Sesselkante und spürte das Zittern, die Anspannung. Und die Übelkeit. Wie beim ersten Schluck, wenn sich der Magen umdrehte und der Körper sich mit aller Verzweiflung zu wehren versuchte, um später dann immer mehr zu fordern, rücksichtslos. Bis es ihn und alle um ihn herum zerstörte. Wie das hier. Harry sprang so abrupt auf, dass ihm schwindelig wurde, packte die Mappe, wusste, dass sie zu dick war, und riss sie doch in zwei Teile.
    Dann sammelte er die Fetzen zusammen und trug sie wieder nach unten zum Müllcontainer. Ließ sie am Rand heruntergleiten und hob ein paar Müllsäcke an, damit sie an der Seite bis zum Boden rutschen konnten. Hoffentlich kam der Müllwagen bald.
    Harry ging zurück in seine Wohnung und setzte sich wieder in den Sessel.
    Als die Nacht draußen vor dem Fenster langsam ergraute, hörte er die ersten Geräusche der erwachenden Stadt. Über dem gleichmäßigen Brummen des beginnenden Morgenverkehrs auf der Pilestredet tönte aus der Ferne die dünne Sirene eines Polizeiwagens. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Er hörte eine weitere Sirene. Alles Mögliche. Und noch eine. Nicht mehr alles Mögliche.
    Das Telefon klingelte.
    Harry nahm den Hörer ab.
    »Hier ist Hagen. Wir haben gerade die Nachri…«
    Harry legte auf.
    Es klingelte erneut. Harry sah aus dem Fenster. Er hatte Søs noch nicht angerufen. Warum nicht? Weil er sich seiner kleinen Schwester nicht zeigen wollte – seiner enthusiastischsten, vorbehaltlosesten Bewunderin? Der jungen Frau mit dem – wie sie es selbst nannte – »winzigen Anflug von Downsyndrom«, die das Leben aber trotzdem so viel besser meisterte als er. Sie war der einzige Mensch, den er niemals enttäuschen wollte.
    Das Telefon hörte zu klingeln auf. Und begann von neuem.
    Harry riss den Hörer von der Gabel. »Nein, Chef. Die Antwort lautet Nein. Ich will nicht arbeiten.«
    Am anderen Ende blieb es eine Sekunde still. Dann meldete sich eine fremde Stimme.
    »Stadtwerke Oslo, Herr Hole?«
    Harry fluchte innerlich. »Ja?«
    »Sie haben die Rechnungen, die wir Ihnen geschickt haben, nicht beglichen und auch auf die Mahnungen nicht reagiert. Mit diesem Anruf möchte ich Ihnen mitteilen, dass wir heute Mittag um zwölf Uhr den Strom für Ihre Wohnung Sofies gate 5 abstellen.«
    Harry antwortete nicht.
    »Natürlich schalten wir den Strom umgehend wieder frei, sobald der ausstehende Betrag auf unserem Konto eingegangen ist.«
    »Und wie hoch ist der Betrag?«
    »Mit Zinsen, Mahngebühren und den Gebühren für die Abschaltung beläuft die Summe sich auf 14 460 Kronen.«
    Pause.
    »Hallo?«
    »Ja, ja, ich bin noch da. Ich habe im Moment nicht so viel Geld.«
    »In dem Fall werden die ausstehenden Beträge gerichtlich eingefordert. Wollen wir hoffen, dass es in der Zwischenzeit nicht zu frieren beginnt, nicht wahr?«
    »Wahr«, konstatierte Harry und legte auf.
    Der Heulton der Sirenen schwoll an und ab.
    Harry ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Er blieb eine Viertelstunde mit geschlossenen Augen liegen, dann gab er auf, zog sich wieder an und verließ die Wohnung, um mit der Straßenbahn ins Krankenhaus zu fahren.

KAPITEL 1 1
     
    Ausdruck
     
    A ls ich heute Morgen aufwachte, wusste ich, dass ich wieder dort gewesen war. Es ist immer derselbe Traum: Wir liegen auf dem Boden, das Blut fließt, und wenn ich zur Seite sehe, steht sie da und sieht uns an. Mit traurigem Blick, als hätte sie erst jetzt erkannt, wer ich bin, als hätte sie mich erst jetzt entlarvt, realisiert, dass ich nicht der bin, den sie haben will.
    Das Frühstück schmeckte ausgezeichnet. Es steht

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