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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Aufmerksamkeit der Zuschauer war auf den Sprungturm gerichtet. Stumpfe Blicke, halbgeöffnete Münder, als langweilten sie sich, während sie darauf hofften, einen Blick auf das Schreckliche zu erhaschen, um etwas für ihre Tagebücher zu haben oder eine Horrorgeschichte für die Nachbarn. Ein Mann hielt ein Handy hoch, ohne jeden Zweifel, um Fotos zu machen. Harry nahm das Vergrößerungsglas, das auf dem Stapel Berichte lag, und sah sich die Gesichter an, der Reihe nach. Nach was er Ausschau hielt, wusste er nicht, sein Kopf war leer, nur so konnte er etwas finden, sollte es denn etwas zu finden geben.
    »Hast du was entdeckt?« Sie hatte sich hinter ihn gestellt und beugte sich über ihn, um etwas sehen zu können. Er nahm den sanften Lavendelduft wahr, den er schon im Flugzeug gerochen hatte, als sie mit ihrem Kopf an seiner Schulter geschlafen hatte.
    »Hm. Glaubst du, dass es hier etwas zu entdecken gibt?«, fragte er und nahm die Kaffeetasse entgegen.
    »Nein.«
    »Und warum hast du die Bilder dann mit nach Hause genommen?«
    »Weil 95 Prozent aller Ermittlungen darin bestehen, dass man am falschen Ort sucht.«
    Sie hatte soeben Holes drittes Gebot zitiert.
    »Und weil man lernen muss, auch diese 95 Prozent zu akzeptieren. Sonst geht man kaputt.«
    Viertes Gebot.
    »Und die Berichte?«, fragte Harry.
    »Wir können natürlich nur auf unsere eigenen Berichte zu den Morden an Borgny und Charlotte zurückgreifen, und darin ist absolut nichts zu finden. Keine Spuren und auch keine Zeugen, die irgendetwas beitragen könnten. Nichts über Feinde, eifersüchtige Exlover, geizige Erben, verrückte Stalker, ungeduldige Dealer oder sonstige Schuldner. Kurz gesagt …«
    »Keine Spuren, kein erkennbares Motiv, keine Mordwaffe. Ich würde gern Leute in Verbindung mit dem Marit-Olsen-Fall befragen, aber wie du weißt, ist das nicht unser Fall.«
    Kaja lächelte. »Natürlich nicht. Ich habe heute übrigens mit einem Politikredakteur der VG gesprochen. Er meinte, keinem der Storting-Journalisten sei bekannt gewesen, dass Marit Olsen an Depressionen litt oder eine persönliche Krise hatte, ganz zu schweigen von Selbstmordgedanken. Auch von Feinden wusste niemand etwas, weder auf der Arbeit noch privat.«
    »Hm.«
    Harry ließ seinen Blick über die Reihen der Schaulustigen schweifen. Eine Frau mit Schlafwandlerblick und einem Kind auf dem Arm fiel ihm auf.
    »Was wollen diese Menschen?«
    Im Hintergrund: der Rücken eines Mannes, der sich entfernte. Daunenjacke, Wollmütze. »Schockiert werden? Erschüttert? Unterhalten? Erlöst …?«
    »Unglaublich.«
    »Hm. Und du liest John Fante? Du scheinst ein Faible für alte Sachen zu haben.« Er sah sich im Zimmer um, blickte in den Flur. Und meinte das Zimmer, die Wohnung, rechnete aber da mit, dass sie auf ihren Mann zu sprechen kam, der Harrys Meinung nach so viel älter als sie sein musste.
    Sie sah ihn begeistert an: »Hast du Fante gelesen?«
    »Als ich jung war und meine Bukowski-Phase hatte, habe ich mal eins gelesen, aber ich erinnere mich nicht mehr an den Titel. Ich habe das Buch eigentlich nur gekauft, weil Charles Bukowski ein bekennender Fan war.« Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Oje, an der Zeit zu gehen.«
    Kaja sah ihn überrascht an und blickte dann auf die unangetastete Kaffeetasse.
    »Jetlag«, sagte Harry lächelnd und stand auf. »Wir können morgen bei der Besprechung darüber reden.«
    »Natürlich.«
    Harry klopfte sich auf die Hosentasche. »Übrigens, ich habe keine Zigaretten mehr. Die Stange Camel, die du für mich durch den Zoll gebracht hast …«
    »Warte hier«, sagte sie und lächelte.
    Als sie mit der geöffneten Stange zurückkam, stand Harry bereits in Jacke und Schuhen auf dem Flur.
    »Danke«, sagte er, nahm ein Päckchen heraus und öffnete es.
    Als er draußen auf der Treppe stand, lehnte sie sich an den Türrahmen. »Ich sollte das vielleicht nicht sagen, aber kann es sein, dass das irgendeine Art Test war?«
    »Test?«, fragte Harry und zündete sich eine Zigarette an.
    »Ich will gar nicht wissen, was für ein Test es war, aber habe ich bestanden?«
    Harry lachte kurz auf. »Es ging nur um die hier.« Er ging die Treppe runter und winkte ihr mit der Stange zu. »Null, sieben, null, null.«
     
    Harry schloss seine Wohnung auf. Drückte auf den Lichtschalter und stellte fest, dass der Strom noch nicht abgeschaltet war. Er zog den Mantel aus, ging ins Wohnzimmer und legte Deep Purple auf. Seine definitive Lieblingsband in der Kategorie

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