Leopard
ausgehe, mir ein Bier bestelle und zu dem hübschesten Mädchen gehe, das ich finden kann, um ihr diese Geschichte zu erzählen.« Er breitete die Arme aus und zeigte lächelnd seine weißen Zähne. »Ich glaube, du bist das Mädchen an der blauen Pagode.«
»Was?«
»Rudyard Kipling, Mädchen. Du bist das Mädchen, das an Moulmeins blauer Pagode auf den englischen Soldaten wartet. Also, was meinst du? Läufst du barfuß mit mir über den Marmor in Shwedagon? Isst du Kobra mit mir in Bago? Schläfst du mit mir ein beim Gebetsruf der Muezzins in Yangon, und wachst mit mir auf zu den Gebeten der Buddhisten in Mandalay?«
Er atmete tief ein. Sie beugte sich vor: »Soso, ich bin also das hübscheste Mädchen hier?«
Er sah sich um. »Nein, aber du hast die größten Möpse. Du bist hübsch, aber die Konkurrenz rund um die Aller hübschesten ist zu hart. Sollen wir gehen?«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. Wusste nicht, ob er witzig oder einfach nur verrückt war.
»Ich bin mit ein paar Freundinnen hier, du solltest lieber eine andere anbaggern.«
»Elias.«
»Was?«
»Du fragst dich, wie ich heiße. Falls wir uns wiedersehen. Und ich heiße Elias. Skog. Letzteres wirst du wieder vergessen, aber an Elias wirst du dich erinnern. Und wir werden uns wiedersehen. Früher, als du glaubst, das verspreche ich dir.«
Sie neigte den Kopf zur Seite: »Ach ja?«
Er neigte seinen Kopf und äffte sie nach: »Ja, ja.«
Dann leerte er sein Bierglas, stellte es auf den Tresen, lachte sie an und ging.
»Was war denn das für ein Kerl?«
Das war Mathilde.
»Keine Ahnung«, sagte Stine. »Der war ja ganz süß, aber irgendwie auch merkwürdig. Spricht irgend so einen Østlandsdialekt.«
»Merkwürdig?«
»Mit seinen Augen stimmt was nicht. Und mit den Zähnen. Haben die hier drinnen Strobelicht?«
»Strobelicht?«
Stine lachte. »Ja, dieses zahncremefarbene Solariumlicht, in dem man wie ein Zombie aussieht.«
Mathilde schüttelte den Kopf. »Du brauchst einen Drink, komm.«
Stine wandte sich zum Ausgang, als sie ihr nachging, und glaubte hinter der Scheibe ein Gesicht zu erkennen, sie war sich aber nicht sicher.
KAPITEL 16
Speed King
E s war neun Uhr abends, als Harry durchs Zentrum von Oslo lief. Er hatte den Tag genutzt, um Stühle und Tische in das neue Büro zu tragen. Am Nachmittag war er ins Reichshospital gefahren, aber sein Vater war zu einigen Untersuchungen abgeholt worden, so dass er wieder zurück ins Präsidium gegangen war, Berichte kopiert und ein paar Telefonate gemacht hatte. Dann hatte er ein Flugticket nach Bergen bestellt und einen Abstecher ins Zentrum gemacht, um sich einen Webstick in Größe einer Zigarettenkippe zu kaufen.
Harry ging schnell. Er liebte es, die kompakte Stadt zu Fuß von Ost nach West zu durchqueren und dabei die langsamen, aber stetigen Veränderungen zu beobachten, Mode, Ethnien, Baustil, Läden, Cafés und Bars. Er ging in einen McDonald’s, aß einen Hamburger, steckte drei Strohhalme in die Jackentasche und ging weiter.
Eine halbe Stunde nach seinem Aufbruch im ghettoartigen, pakistanischen Grønland befand er sich im sauberen, etwas sterilen, kreideweißen Westen der Stadt. Kaja Solness wohnte in der Lyder Sagens gate in einem der großen, alten Holzhäuser, vor denen die Osloer Schlange standen, wenn denn mal eins davon zum Verkauf angeboten wurde. Nicht um es zu kaufen – das konnte sich kaum jemand leisten –, sondern um es sich anzusehen, ein bisschen zu träumen und bestätigt zu bekommen, dass Fagerborg wirklich das war, wofür es sich ausgab: ein Viertel, in dem die Reichen nicht zu reich waren, das Geld nicht zu neu, und in dem es weder Swimmingpools noch elektrische Toröffner oder sonstigen modernen Schnickschnack gab. Hier lebten die Bürger, wie sie es immer getan hatten. Im Sommer saßen sie in den großen, schattigen Gärten unter den Apfelbäumen, und ihre schwarzgebeizten Gartenmöbel wirkten ebenso alt und unpraktisch wie die Häuser, aus denen sie nach draußen getragen worden waren. Und wenn die Tage kürzer wurden und die Holzbänke und Tische wieder im Haus verschwanden, wurden die Lampen hinter den Sprossenfenstern eingeschaltet. In der Lyder Sagens gate herrschte von Oktober bis März Weihnachtsstimmung.
Das Tor kreischte so laut, dass jeder Hund überflüssig war. Der Kies knirschte unter seinen Dr.-Martens-Stiefeln, über deren Wiederentdeckung in seinem Schrank er sich wie ein Kind gefreut hatte, die inzwischen aber durch und
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