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Leopard

Leopard

Titel: Leopard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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konzentrieren.
    Sein Dilemma bestand darin, dass er bei der Untersuchung des Seils, mit dem Marit Olsen erhängt worden war oder – besser gesagt – enthauptet, eine interessante Entdeckung gemacht hatte. Es war nicht sicher, dass diese Spur sie weiterbrachte, aber trotzdem steckte er in einem Dilemma: Sollte er diese Information an das Kriminalamt oder an Harry weitergeben? Bjørn Holm hatte die winzigen Muscheln schließlich zu einem Zeitpunkt entdeckt, als er noch für das Kriminalamt gearbeitet hatte. Das Gleiche galt für sein Gespräch mit dem Limnologen am Biologischen Institut UiO. Als Beate ihn in Harrys Abteilung versetzt hatte, war sein Bericht noch nicht geschrieben gewesen, so dass er nun folglich Harry gegenüber auskunftspflichtig wäre.
    Okay, vielleicht war es, strenggenommen, kein wirkliches Dilemma. Die Information stand dem Kriminalamt zu. Sie jemand anderem zu geben konnte als Dienstvergehen angesehen werden. Außerdem, was war er Harry Hole denn eigentlich schuldig? Die Arbeit mit diesem Einzelgänger hatte ihm nichts als Ärger eingebracht. Er war merkwürdig und – was die Arbeit anging – rücksichtslos, und wenn er betrunken war, nahezu lebensgefährlich. Nüchtern allerdings ein Genie. Dann konnte man darauf vertrauen, dass er sich ohne Wenn und Aber für seine Mitarbeiter einsetzte, »you owe me« . Ein unangenehmer Feind, aber ein echter Freund. Ein guter Mann. Ein verdammt guter Mann. Eigentlich ein bisschen wie Hank.
    Bjørn Holm stöhnte und drehte sich zur Wand.
     
    Stine schrak aus dem Schlaf hoch.
    Sie hörte ein leises Summen im Dunkeln. Sie drehte sich auf die Seite und bemerkte an der Zimmerdecke ein schwaches Licht, das vom Boden neben ihrem Bett ausging. Wie spät war es? Drei Uhr nachts? Sie streckte den Arm aus und bekam ihr Handy zu fassen.
    »Ja?«, meldete sie sich und gab ihrer Stimme einen extra schläfrigen Klang.
    »Nach der Deltaregion war ich all die Schlangen und Mücken leid und bin mit meinem Motorrad nach Norden an der Küste entlang in Richtung Arakan gefahren.«
    Sie erkannte seine Stimme sofort.
    »Zur Sai-Chung-Insel«, sagte er. »Auf dieser Insel gibt es einen aktiven Schlammvulkan, der, wie ich gehört hatte, bald wieder ausbrechen sollte. Und in der dritten Nacht nach meiner Ankunft war es so weit. Ich dachte, es käme nur Schlamm, aber verdammt, der hat wirklich auch gute alte Lava gespuckt. Dickes, zähes Zeug, das uns Zeit ließ, die Stadt in aller Ruhe zu verlassen.«
    »Es ist mitten in der Nacht«, sagte sie mit einem Gähnen.
    »Trotzdem ließ er sich nicht aufhalten. Man nennt das kalte Lava. Die ist enorm zäh, verbrennt aber alles, was sich ihr in den Weg stellt. Bäume mit frischen grünen Blättern sehen vier Sekunden lang aus wie Weihnachtsbäume, ehe sie zu Asche verbrennen und zerfallen. Die Burmesen versuchten, in ihren Autos zu fliehen, vollgepackt mit ihrem Hab und Gut, aber sie hatten wohl zu lange gepackt. Hatten sich auf die Trägheit der Lava verlassen. Als sie mit dem Fernseher aus dem Haus kamen, hatte sie bereits die Hauswände erreicht. Sie warfen sich in das Auto, aber die Hitze hatte die Reifen geschmolzen, dann begann das Benzin zu brennen, und sie taumelten wie lebende Fackeln aus den Autos. Weißt du noch, wie ich heiße?«
    »Hör mal, Elias …«
    »Ich habe dir ja gesagt, dass du dich daran erinnern wirst.«
    »Ich muss schlafen. Ich muss morgen früh in die Schule.«
    »Ich bin so ein Ausbruch, Stine. Ich bin kalte Lava. Fließe langsam, bin aber nicht zu stoppen. Ich komme zu dir.«
    Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie ihm ihren Namen genannt hatte, und richtete ihren Blick automatisch auf das Fenster. Es stand offen. Draußen wehte ein friedlicher und ruhiger Wind.
    Seine Stimme flüsterte leise: »Da war ein Hund, der sich auf der Flucht in einem Stacheldraht verfangen hatte, genau in der Fließrichtung der Lava. Aber dann bog der Strom plötzlich nach links ab, als wollte er einen Bogen um das Tier machen. Gab es doch einen barmherzigen Gott? Aber die Lava war bereits zu nah, und der halbe Hund verpuffte einfach, evaporierte, bevor der Rest Feuer fing und zu Asche wurde. Alles wird zu Asche.«
    »Das ist widerlich, ich lege jetzt auf.«
    »Sieh nach draußen. Ich bin bereits an deiner Hauswand.«
    »Hör auf!«
    »Entspann dich, ich mache nur Witze.« Er lachte laut und schallend.
    Stine schauderte. Er musste betrunken sein. Oder verrückt. Oder beides.
    »Schlaf gut, Stine. Wir sehen uns bald.«
    Die

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