Leopard
Mathilde gesagt, dass sie nach Hause wollte. Aber Mathilde hatte noch bleiben wollen, sie hatte gerade ein Gespräch mit einem amerikanischen Ölarbeiter begonnen, also hatte Stine ihren Mantel genommen, war vom Krabbe zum Busbahnhof gelaufen und hatte sich in den Bus nach Våland gesetzt.
Sie starrte auf die roten Ziffern der Digitaluhr über dem Fahrer. Hoffte, dass sich die Türen schlossen und sich der Bus in Bewegung setzte. Noch eine Minute.
Sie blickte nicht auf, weder als sie die schnellen Schritte hörte noch die atemlose Stimme, die um eine Fahrkarte bat, und auch nicht, als er neben ihr Platz nahm.
»Du, Stine«, sagte er. »Ich glaube fast, du gehst mir aus dem Weg.«
»Oh, hi, Elias«, sagte sie, ohne ihren Blick vom regennassen Asphalt zu nehmen. Warum hatte sie sich so weit nach hinten in den Bus gesetzt, so weit weg vom Fahrer?
»Du solltest nachts nicht allein rumlaufen, weißt du.«
»Nicht?«, murmelte sie und hoffte, dass noch jemand kam, irgendjemand.
»Liest du denn keine Zeitungen? Die zwei Mädchen in Oslo. Und kürzlich die Stortingsabgeordnete. Wie hieß sie doch noch gleich?«
»Keine Ahnung«, log Stine und spürte ihr Herz galoppieren.
»Marit Olsen«, sagte Elias, »Arbeiterpartei. Die beiden anderen hießen Borgny und Charlotte. Sagen dir die Namen wirklich nichts?«
»Ich lese keine Zeitung«, sagte Stine. Jetzt musste doch bald jemand kommen.
»Alle drei nette Mädchen«, sagte er.
»Ach ja, du kanntest sie natürlich«, Stine ärgerte sich sogleich über ihren sarkastischen Ton. Das war die Angst.
»Nicht gut, natürlich«, sagte Elias. »Aber der erste Eindruck hat mir gefallen. Ich bin – aber das weißt du ja – ein Mensch, der viel Wert auf den ersten Eindruck legt.«
Sie starrte auf die Hand, die er wie zufällig auf ihr Knie gelegt hatte.
»Du …«, sagte sie, und selbst in dieser einen Silbe hörte sie ihr Flehen.
»Ja, Stine?«
Sie sah zu ihm auf. Sein Gesicht war so offen wie das eines Kindes, der Blick aufrichtig fragend. Sie wollte schreien, aufspringen, als sie Schritte hörte. Jemand redete mit dem Fahrer. Ein Passagier. Ein erwachsener Mann. Er kam nach hinten in den Bus. Stine versuchte, seinen Blick einzufangen, ihm zu erkennen zu geben, was los war, aber die Krempe seines Hutes beschattete seine Augen, als er das Wechselgeld und die Fahrkarte in sein Portemonnaie steckte. Erleichtert atmete sie auf, als er direkt hinter ihnen Platz nahm.
»Es ist unbegreiflich, dass die Polizei den Zusammenhang noch nicht erkannt hat«, sagte Elias. »Das kann doch nicht so schwer sein. Die müssen doch wissen, dass alle diese Mädchen gerne in die Berge gingen. Dass sie alle in derselben Nacht in der Håvasshütte übernachtet haben. Meinst du, ich sollte ihnen das sagen?«
»Vielleicht«, flüsterte Stine. Wenn sie schnell war, würde es ihr eventuell gelingen, an Elias vorbeizuschlüpfen und aus dem Bus zu rennen. Aber kaum kam ihr dieser Gedanke, schnaufte auch schon die Hydraulik. Die Türen setzten sich in Bewegung, und der Bus fuhr an. Sie schloss die Augen.
»Ich hab bloß keine Lust, da hineingezogen zu werden. Ich hoffe, du verstehst das, Stine?«
Sie nickte langsam, die Augen noch immer geschlossen.
»Gut, dann kann ich dir ja von dem anderen erzählen, der da war. Den kennst du garantiert.«
TEIL II I
KAPITEL 24
Stavanger
H ier stinkt’s …«, sagte Kaja.
»Mist«, sagte Harry. »Vermutlich Kuh. Willkommen in Jæren.«
Das Morgenlicht sickerte durch die Wolken, die über die frühlingsgrünen Wiesen zogen. Von der anderen Seite der Steinmauer starrten die Kühe stumm hinter ihrem Taxi her. Sie befanden sich auf dem Weg vom Flugplatz Sola ins Zentrum von Stavanger.
Harry lehnte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorn. »Ginge es wohl etwas schneller, Driver !« Er hielt seinen Polizeiausweis hoch. Der Taxifahrer grinste breit und gab Gas.
»Machst du dir Sorgen, wir könnten zu spät kommen?«, fragte Kaja, als Harry sich zurückfallen ließ.
»Weder telefonisch zu erreichen noch bei der Arbeit erschienen«, sagte Harry und führte den Gedankengang nicht weiter.
Seit seinem Telefonat in der Nacht zuvor mit Katrine Bratt war Harry die Notizen noch einmal durchgegangen, die er während des Gespräches gemacht hatte. Er hatte die Namen, Telefonnummern und Adressen von zwei lebenden Personen, die höchstwahrscheinlich im vergangenen November zusammen mit den drei Mordopfern in einer Berghütte übernachtet hatten. Nachdem er
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