Leopard
stand auf dem mittleren der drei Klingelschilder an der Haustür.
Harry drückte auf die Klingel und hörte es irgendwo im Haus surren.
Eine Minute und drei Versuche später drückte er den unteren Klingelknopf.
Die alte Dame, die ihnen aufmachte, lächelte sie an.
Harry registrierte, dass Kaja instinktiv das Wort ergriff. »Guten Tag, ich bin Kaja Solness. Wir sind von der Polizei. In der Etage über Ihnen reagiert niemand auf unser Klingeln. Wissen Sie, ob jemand zu Hause ist?«
»Ich nehme es an. Obgleich es schon den ganzen Tag ruhig ist«, sagte die Frau. Als Harrys Augenbraue nach oben wanderte, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Das Haus ist ziemlich hellhörig, und ich habe gehört, wie heute Nacht mehrere Personen hier ankamen. Als Vermieterin muss ich schließlich auf dem Laufenden sein.«
»Auf dem Laufenden?«, fragte Harry.
»Ja, aber ich mische mich natürlich nicht ein …« Die Frau bekam ein paar hektische rote Flecken im Gesicht. »Es ist doch nichts Schlimmes, oder? Ich meine, ich hatte nie Probleme mit …«
»Wir wissen es nicht«, sagte Harry.
»Am besten schauen wir mal nach«, sagte Kaja. »Wenn Sie also einen Schlüssel für die Wohnung hätten …«, Harry ahnte, dass Kaja in diesem Moment verschiedene Formulierungsalternativen durchging, und wartete gespannt auf die Fortsetzung, »… sind wir Ihnen gerne behilflich zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist.«
Kaja Solness war ein cleveres Mädchen. Ging die Vermieterin auf ihren Vorschlag ein und fanden sie etwas, würde im Bericht stehen, dass sie hereingebeten worden waren, und nicht, dass sie sich den Zugang erzwungen oder die Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl betreten hatten.
Die alte Dame zögerte.
»Sie können natürlich auch gerne selber nachschauen, wenn wir wieder weg sind«, sagte Kaja mit einem Lächeln. »Und dann die Polizei rufen. Oder einen Krankenwagen. Oder …«
»Ich denke, es ist das Beste, wenn Sie mitkommen«, sagte die Frau mit besorgter Miene. »Warten Sie, ich hole nur kurz den Schlüssel.«
Die Wohnung, die sie eine Minute später betraten, war sauber, aufgeräumt und nahezu unmöbliert. Harry erkannte die Stille menschenleerer Wohnungen an einem Vormittag, sie war so greifbar, fast erdrückend, wenn die Geschäftigkeit des Alltags nur als kaum hörbares Rauschen von außen zu einem drang. Aber er erkannte noch etwas anderes. Einen Geruch. Klebstoff. Er entdeckte ein Paar Schuhe, aber keine Jacke oder Ähnliches.
In der kleinen Küche stand ein großer Teebecher auf der Spülablage. Auf dem Regal darüber gab es mehrere beschriftete Metalldosen, die Teesorten enthielten, von denen Harry noch nie etwas gehört hatte, Oolong Tea, Anji Bai Cha Tea. Sie setzten ihre Runde durch die Wohnung fort. An der Wohnzimmerwand hing ein Bild, in dem Harry den K2 zu erkennen glaubte, den populären Mörderberg im Himalaya.
»Siehst du dort nach?«, fragte Harry und nickte in Richtung einer Tür mit einem Herzen, während er selbst auf die Tür zusteuerte, hinter der er das Schlafzimmer vermutete. Er holte tief Luft, drückte die Klinke nach unten und stieß die Tür auf.
Das Bett war gemacht, das Zimmer aufgeräumt. Ein Fenster stand auf Kipp. Hier roch es nicht nach Klebstoff, die Luft war frisch wie Kinderatem. Harry hörte die Vermieterin hinter sich an der Tür.
»Seltsam«, sagte sie. »Ich habe sie heute Nacht ganz deutlich gehört. Und nur einer ist gegangen.«
»Sie?«, hakte Harry nach. »Sind Sie sicher, dass es mehrere Personen waren?«
»Ja, ich habe Stimmen gehört.«
»Wie viele Personen waren es?«
»Drei, würde ich sagen.«
Harry öffnete den Kleiderschrank. »Männer? Frauen?«
»So hellhörig ist es glücklicherweise nicht.«
Kleider. Ein Schlafsack und ein Rucksack. Noch mehr Kleider.
»Wieso tippen Sie auf drei?«
»Nachdem die eine Person gegangen ist, habe ich Geräusche von oben gehört.«
»Was für Geräusche?«
Die Vermieterin errötete leicht. »So ein Klopfen. Als ob … Na, Sie wissen schon.«
»Aber keine Stimmen mehr?«
Die Vermieterin dachte nach. »Nein, keine Stimmen.«
Harry verließ das Zimmer und stellte verdutzt fest, dass Kaja immer noch auf dem Flur vor der Badezimmertür stand, als müsste sie sich gegen starken Gegenwind stemmen.
»Stimmt was nicht?«
»Nein, alles in Ordnung«, antwortete Kaja schnell und unbeschwert. Zu unbeschwert.
Harry ging zu ihr und stellte sich neben sie.
»Was ist los?«, fragte er leise.
»Ich … ich hab einfach nur ein
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