Ler-Trilogie 02 - Die Zan-Spieler
vorwärts zu kommen verlangsamte sich mit ihr. Die Sonne, ganz unveränderlich und starr, begann, über den Himmel zu kriechen. Die Schatten wurden länger. Morlenden näherte sich leise so dicht, wie er sich traute. Die reglose Gestalt stand immer noch da wie aus einem alten Deodarazedernstumpf geschnitzt.
Der Nachmittag rückte um Bruchteile weiter. Ohne daß dies vorauszusehen gewesen wäre, bewegte sich die Gestalt dort vorn plötzlich, als sei sie soeben aus der Erstarrung erwacht, bewegte sich und blickte umher. Perwathwiy! Die alte Frau blickte umher, als vergewissere sie sich, daß sie nicht beobachtet worden war. Was hatte sie gemacht? Meditiert? Morlenden wußte es nicht. Sie schritt kühn, wenngleich etwas langsam und bedächtig, aus, nicht über die Brücken, sondern gen Norden auf einem kaum sichtbaren, zwischen den Flüssen verlaufenden Pfad. Morlenden blieb, wo er war, überzeugt, daß sie ihn nicht gesehen hatte, denn ihr Blick war flüchtig gewesen, ein rasches Überfliegen der Richtungen, nichts weiter. Es war ihm peinlich, daß er sich vor einer alten Frau versteckte. Er sah zu, wie die Perwathwiy vom fernen Wirrwarr aus Unterholz und überwuchertem Hang verschluckt wurde und schließlich verschwand. Er richtete sich auf. Nicht einmal hatte sie zurückgesehen. Er begann sich vorwärts zu bewegen, wobei er sich vorsichtig umsah, lauschte. Nein. Sie war verschwunden, außer Sicht. Er setzte seinen Gang fort; sein inneres Wahrnehmungsvermögen schrie ihm eine Tatsache zu. Sanjirmil war nicht bei der alten Frau gewesen.
Etwas an dieser Tatsache ließ ihn nicht los. Er wies den Gedanken zurück. Warum hätte sie mit der Perwathwiy zusammenbleiben sollen? Ihre Pflicht war getan – sie war für die aktiven Spieler Zeuge gewesen, für die Perklarens und Terklarens gleichermaßen, obwohl Morlenden sich auch bei diesem Gedanken unbehaglich fühlte. Warum sollte ein Konkurrent für eine andere Webe Zeuge sein? Für einen Augenblick verwarf er auch dies als eine verrückte Angewohnheit der verschrobenen Spielerweben und setzte westwärts seinen Weg in das goldene Licht des späten Nachmittags hinein fort, wobei er unter den dicken, hohen Stämmen der am Flußufer wachsenden Tulpenbäume hindurchging. Gewiß, dieses Verwerfen war, wie ihm bewußt wurde, nur vorläufig, aber das war vieles andere im Leben auch, und er hatte noch Meilen vor sich. Er trat ins Freie und beschleunigte sein Tempo.
Vielleicht, so dachte er mit einem listigen, kurzen Lachen, hat Sanjir jemand anders gefunden, der ihr leise „Ajimi“ in ihr karamelfarbenes Ohr flüstert.
Die Sonne wanderte weiter, blieb stehen, kroch an dem dicht mit den Zweigen der Bäume besetzten Horizont entlang, färbte sich rot im Industrienebel des fernen Westens und verblaßte, wenn man sie ansah. Morlenden machte nicht halt, um zu Abend zu essen, da er es vorzog, so weit er konnte weiterzuwandern. Die Dämmerung zog sich hin, verstärkte sich. Es kam die Nacht, und mit ihr kamen die Sterne. Alle Spuren des Abendrots schwanden im Westen und Norden. Es wurde kälter. Die Luft, die fast den ganzen Tag über windstill gewesen war, wurde vollkommen ruhig. Morlendens Gehör dehnte sich aus in der kristallenen Dunkelheit, erstreckte sich in das vorüberziehende Land hinein, das sich von Feldern und mit diesen abwechselnden Wäldern in noch spärlicher bewachsenes und teilweise wieder in Wildnis zurückgefallenes Land verwandelte. Er glaubte, unter den Sternen und dem Leuchten entlang des Horizonts flüchtig die Masse jener Bergkette erkennen zu können, die in dem sagenumwobenen „Berg des Wahnsinns“ endete, Grozgor. Morlenden erschauerte, nicht allein wegen der Kälte, denn er marschierte jetzt in einem festen, energischen Schritt. Nein, wegen der Kälte nicht. Man wagte sich nicht so einfach in die Nähe der Hänge des Grozgor, keiner von ihnen. Man hatte von Geschichten, Aberglauben, Legenden gehört. Das ganze Reservat zerbrach sich den Kopf über die alten Gespenstergeschichten, die von den letzten der Menschen herrührten, die in dem Gebiet gelebt hatten, und unvergessen und ausgeschmückt mehrere hundert Jahre lang immer wieder weitererzählt worden waren. Natürlich glaubte er nicht alles. Aber andererseits wollte er auch nicht unbedingt des Nachts über den Grozgor gehen. Er galt als Schlupfwinkel der Spieler, die von sonderbaren und phantastischen Stimmungen heimgesucht wurden – sie gingen des Nachts hin, ihre Vision zurückzugewinnen, was immer
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