Lerchenherzen
Stiefeletten. Er weckt in ihr die Vorstellung von Brotkrumen – sie sollte Brotkrumen haben, ohne daß der Gedanke in Worte geformt wird.
In ihr entsteht auch das Bild von Schwalben. Sie sieht Schwalben, die wie schwarze Pfeile an einemMittsommerabend über Jakobs Wiese hin- und herschießen. Ein ums andere Mal kreuzen sich ihre Flugbahnen, ohne daß sie jemals miteinander in Berührung kommen. Sie hört das hohe Zwitschern und riecht das frischgemähte Gras.
Ach, Mathilde. Ich sehe dich an einem eiskalten Vormittag im März auf einer Friedhofsbank sitzen. Du trägst den schwarzen Mantel mit dem Nerzkragen, ein Kragen, der aus zwei vollständigen Tieren gearbeitet ist, mit Kopf und Pfoten und allem, lose um deinen Nacken gelegt. Dein stolzer Nacken, Mathilde, der sich so selten beugt, jedenfalls, wenn es jemand sehen kann. Das Tuch, das du um den Hals trägst, ist heruntergerutscht, aber du ziehst dir nicht den Kragen bis über die Ohren hoch, um dich gegen den beißend kalten Schnee zu schützen. Du hältst den Kopf vornübergeneigt, so als ob du dich der Trauer um einen lieben Verstorbenen beugtest, und dein Blick starrt geistesabwesend auf deine eigenen runden Stiefelspitzen. Ragnhild, die vorbeikommt und bei der Bank anhält, muß deinen Namen mehrere Male sagen, ehe du sie hörst.
Im Bus nach Hause sitzen Mathilde und Ragnhild Seite an Seite auf den grünen Sitzen, ohne miteinander zu sprechen, denn beide sind sie erfüllt von ihren eigenen Erlebnissen und Gedanken. Am Tag darauf reist Ragnhild nach Oslo, um den kleinen Nils-Jan abzuholen.
31
In den ersten Nächten wacht er auf und weint. Er weint still und vorsichtig, fast lautlos, aber Ragnhild, die im Zimmer nebenan liegt, die Tür angelehnt, hat alle Sinne auf das fremde Kind gerichtet und hört ihn.
Mit einer raschen Bewegung schwingt sie die Beine aus dem Bett, steckt die Füße in die karierten Pantoffeln mit dem heruntergetretenen Rand und den großen Pompons vorn, und sie fröstelt ein bißchen von der Kälte, die ihr eiskalt die Beine hochsteigt, bis die Pantoffeln warm geworden sind. Sie wickelt sich einen alten hellbraunen Strickschal um die Schultern und schleicht sich auf Zehenspitzen hinüber zu seinem Bett. Dort setzt sie sich auf die Bettkante und streckt vorsichtig prüfend eine Hand zu dem kleinen Gesicht hin.
Er zieht sich nicht zurück, zuckt bei der Berührung nur kurz zusammen. Wie ein ängstliches kleines Reh liegt er da und drückt sich gegen die Unterlage.
»Mama«, schluchzt er, und dieses kleine Wort macht Ragnhild vollständig hilflos. Sie schiebt vorsichtig eine Hand unter die Bettdecke, um ihm tröstend über den Rücken zu streicheln – was kann sie sonst tun! – und entdeckt, daß er fast biszum Hals hinauf naß ist. Sie war darauf vorbereitet, nach dem Bericht des Kinderheims, und sie und Mathilde haben gemeinsam ein Últuch unter das Laken gebreitet, um seine Matratze zu schonen.
»Komm«, sagt sie und schlägt die Bettdecke zur Seite. Da steht er auf, ohne ein Wort zu sagen, und in dem kalten Mondlicht, das durchs Fenster scheint, sieht sie, wie er sich ganz still mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke des Zimmers stellt. Beim Anblick dieses erbarmungswürdigen Rückens erfüllt sie Wut und Scham auf all die unbedachten Erwachsenen. Und als sie sich dem Jungen mit einer etwas jähen Bewegung nähert, zuckt er zusammen, wendet sich ihr halb zu und hebt die Arme über den Kopf, wie um einen Schlag abzuwehren. Da sinkt sie auf den eiskalten Fußboden, nimmt ihn in die Arme und sagt ernst und eindringlich, mit einer Stimme, die vor Bewegung zittert: »Ich werde dich niemals schlagen, Nils-Jan. Was immer du tust, werde ich dich nie, nie schlagen!« Und dieses Versprechen wird sie halten. Er wird ihr allerdings auch keinen Grund geben, es zu brechen.
Später liegen sie zusammen unter ihrer Bettdecke in dem geräumigen Ehebett, das in den langen Wintermonaten, wenn Lars weg ist, besonders groß zu sein scheint. Nils-Jan hat einen trockenen Pyjama an. Er besitzt nur zwei, und die sind beideziemlich verschlissen. Insgesamt hat er nur wenig und elendes Zeug, so daß Mathilde mit dem Nähen angefangen hat, um seine Garderobe zu erweitern, »schließlich soll er ja anständig aussehen«, sagt sie und tritt mürrisch auf der alten, mit Rosen bemalten Singer.
Ragnhild spürt seine Angst, weiß aber nicht, was sie tun kann, um sie zu vertreiben. Sie weiß nicht, ob es richtig ist, ihn mit zu sich ins Bett zu nehmen, es scheint,
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