Lerchenherzen
Oma!« singen sie im Chor. Es sind zwei lebhafte, schmale Kinder mit wachen blauen Augen. Sie drängeln, wollen gern ohne Mütze gehen, und schließlich gibt die Mutter nach. Und der Frühlingssonne gelingt es auf der steilen »Himmelsleiter« immerhin, daß sogar auch die Erwachsenen stehenbleiben und ihre Mäntel aufknöpfen.
Die Mutter zieht den beiden Mädchen die Mützen ab und steckt sie in die großen Manteltaschen. »Wir sind draußen, nur mit den Haaren!« jubeln die Kinder und machen so ein Geschrei, daß die Mutter sie energisch ermahnt, allerdings ohne nennenswerten Erfolg.
Das kleinste Mädchen ist stiller als seine Schwestern. Es hat den Daumen im Mund und hält die Mutter am Mantel fest. »Ich auch … ich auch, Mama!« quengelt sie und zieht an der weißen Kaninchenfellmütze, ohne die Mutter loszulassen. Aber die Mütze ist unter dem Kinn mit einem schmalen weißen Band zugebunden, und das geht nicht auf. Ihre Versuche, die Bänder aufzuknüpfen, führen nur dazu, daß ein fester Knoten entsteht,und weil die Mutter nur eine Hand zur Verfügung hat, muß Ragnhild aushelfen.
Nach und nach darf sie auch die kleine runde Hand halten, und als die Kleine müde wird, läßt sie sich schüchtern und mit dem Daumen im Mund auf dem Arm tragen. Mit der Zeit taut sie auf, und auf Ragnhilds Frage, wie sie heiße, zieht sie den Daumen aus dem Mund, antwortet: »Maja« und stopft ihn blitzschnell wieder hinein. Sie hat ein rundes Gesichtchen und ein tiefes Grübchen im Kinn, Ragnhild ist von ihr bezaubert.
Die Mutter stöhnt ein bißchen über das Daumenlutschen. Beide, die Kleine und die Ølteste, lutschen am Daumen. Alle Versuche, mit Senf auf den Fingern oder sie mit Handschuhen schlafen zu legen, sind fehlgeschlagen. Besonders die Ølteste sollte bald damit aufhören, sie ist fünf Jahre alt.
Diese Alltagskümmernisse der Mutter und ihr liebevolles Klagen über die Kinder versetzen Ragnhild einen schmerzlichen Stich. Ist es so, wenn man Kinder hat, viele Kinder? Warum bekommen manche so viele und andere keine? Gibt es einen, der das steuert? Seit so vielen Jahren haben sie und Lars sich Kinder gewünscht, mehr als alles andere auf der Welt. Jetzt haben sie die Hoffnung aufgegeben. In den letzten Sommern ist Ragnhild nicht mehr schwanger geworden und war eigentlich auch froh darüber. Weder sie nocher können den Gedanken an noch mehr Fehlgeburten verkraften.
Sie trennt sich von der lärmenden Familie an der Kreuzung oben auf dem Hügel. Da ist es ihr schon gelungen, gut Freund mit allen kleinen Mädchen zu sein. Ragnhild kann gut mit Kindern umgehen. Die kleine Tochter von Gudrun, Solfrid – ja, ich werde dir später viel von Solfrid erzählen! Sie könnte ungefähr so alt sein wie die älteste dieser drei hier, sie kommt tagtäglich nach Ås, um Ragnhild zuzuhören, wenn sie die unzähligen Kinderlieder singt, die sie kennt, oder eine der vielen Geschichten erzählt, die sie von Goßmutter Katrine gelernt hat, als sie klein war.
Das letzte Stück des Weges hat Ragnhild die kleine Zweijährige auf dem Arm getragen, während die großen Schwestern darum wetteiferten, wer ihre freie Hand halten darf. Sie haben in einer Tour geplappert und Ragnhild mit feierlichem Ernst anvertraut, daß sie bei Großmutter alle der Größe nach auf dem runden Hocker sitzen dürfen. Die Mutter erklärt lachend, das sei ein Stuhl ohne Rückenlehne. Im Gegensatz zu den anderen Küchenschemeln ist dieser also rund, und weil alle drei deshalb auf ihm sitzen wollen, gibt es jedesmal ein großes Theater. »Bald will er auch«, sagt sie und drückt den Jungen, den sie auf dem Arm hat, an sich. »Dann werden es also vier sein, die sich um den runden Stuhl schlagen«, lacht sie halbresigniert und streicht dem mittleren Mädchen über das Haar.
»Drückt ihr mich zum Abschied noch mal?« fragt Ragnhild. Und die Mädchen wollen sie gerne noch mal drücken. Das Kleine schlingt die Arme um ihren Hals, sie ist ganz angetan von Ragnhild und fängt an zu quengeln, als sie abgesetzt wird. Aber der kleine Junge will nicht. Er hält die Mutter mit den dicken Ørmchen fest und versteckt schüchtern sein Gesicht an ihrem Hals.
Ragnhild bleibt an der Kreuzung stehen und sieht ihnen nach, wie sie winkend in einer Straße verschwinden. Auch wenn die Mutter angestrengt und abgehetzt zu sein scheint, so kommt es Ragnhild vor, als sei sie doch wie von einem Ring aus sicherem Glück umgeben, ein ruhender Pol inmitten der lärmenden Kinderschar.
Als
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