Lerchenherzen
hat. Sie ist so weit bei Bewußtsein. »Meistens schläft sie«, flüstert die weißgekleidete Frau, die sich vom Stuhl am Bett erhoben hat, als Ragnhild das Zimmer betrat. Das Lächeln, das das blasse Gesicht aufleuchten läßt, ist nur ein Schatten des früheren Lächelns, an das sich Ragnhild so gut erinnert. Die Hand, die ihre ergreift, ist mager, der Händedruck ohne Kraft.
Aber Borgny ist froh, sie zu sehen. Ihre grauen Augen, die jetzt ganz in die tiefen Augenhöhlen eingesunken liegen, hängen mit einem Blick voller Zuneigung, ja mit einem fast verehrungsvollen Ausdruck an der Freundin, und die mageren Finger lassen nicht einen Augenblick Ragnhilds Hand los.
Mit kurzen, keuchenden Atemzügen erzählt sie Ragnhild von Hans und von ihrem kleinen Jungen. Das Sprechen strengt sie ungeheuer an, und sie muß zwischendurch lange Pausen machen, um neue Kräfte zu sammeln. Mit flüsternder Stimme bringt sie den Wunsch hervor, die Bitte, die dasLeben des kleinen »Deutschenkindes« und das so vieler anderer verändern wird.
Und Ragnhild sagt ja, denn was sonst kann sie tun? Ja, sie wird sich um den kleinen Nils-Jan kümmern – bis Borgny gesund ist, kann sie nicht lassen hinzuzufügen, auch wenn es keine von beiden glaubt. Sie drückt die kraftlose Hand und versucht mit aller Macht, der sterbenden Freundin etwas von ihrer eigenen Lebenskraft zu schicken.
Als sie viel später ihre Hand vorsichtig aus Borgnys schlafendem Griff zieht – es erinnert sie an den eines vertrauensvollen Kindes – und sich aus dem Krankenzimmer schleicht, da geschieht das nach vielen Versicherungen, morgen wiederzukommen. Aber am nächsten Tag bekommt sie einen Anruf vom Sanatorium, daß Borgny im Laufe der Nacht verstorben sei.
30
Weil Borgny keine eigene Familie hat, fällt Ragnhild die Aufgabe zu, die Beerdigung auszurichten. Sie kauft für Borgny ein Grab auf dem Friedhof in Sandar, denn sie meint, es sei für den kleinen Jungen gut, wenn er das Grab der Mutter in der Nähe weiß.
An einem bitterkalten Vormittag im März kommt Borgny genauso still und unbemerkt unter die Erde, wie sie gelebt hat. Nur Ragnhild folgt ihr. Sie fröstelt in der naßkalten Frühlingsluft, und während der Pfarrer Erde auf den einfachen weißen Sarg wirft, geht ihr durch den Sinn, daß Menschen niemals mehr frösteln als bei einer Beerdigung.
Auch Mathilde friert, als sie unterwegs zur Bushaltestelle an der Friedhofsmauer entlanggeht. Sie hat Ragnhild in die Stadt begleitet, um Häkelgarn und ein paar andere Sachen einzukaufen, die sie benötigt. Jetzt ist sie fertig und will zusammen mit Ragnhild den Bus nach Hause nehmen.
Sie sieht Ragnhild und den Pfarrer am offenen Grab und denkt, daß sie vielleicht hätte mitgehen sollen, wegen Ragnhild. Aber warum sollte sie? Ragnhilds Freundin geht sie nichts an, sie haben sich nie getroffen. Gleichwohl hat sie oftmals vage Mitgefühl für Borgny empfunden. Denn aus dem, was Ragnhild berichtete, spürte sie, daß hier ein Mensch war, noch einsamer als sie selbst.
Und sie denkt noch einmal, daß sie hätte mitgehen sollen, während sie ihren dunklen Wintermantel enger um sich zieht und eilig weitergeht. Mit feuchten Augen beeilt sie sich wegzukommen, und sie weiß nicht, ob ihr die Tränen wegen Ragnhilds Trauer, die ihr Eindruck macht, kommen oder ob es nur der kalte Schnee ist, der ihreAugen zum Überlaufen bringt. Die Tränen blenden sie einen Moment, so daß sie einem großen, vierschrötigen Mann geradewegs in die Arme läuft. Auf dem glatten Bürgersteig verliert sie beinahe das Gleichgewicht, und er packt sie am Mantelärmel, damit sie nicht hinfällt.
Weil die Kirchenglocken in dem Moment ein paar dumpfe Schläge tun, streift er sich mit einer unwillkürlichen Bewegung den Hut vom Kopf, und sie sieht, daß sein Haar in diesen fünfunddreißig Jahren schütter geworden ist, aber der Schwung der Stirn ist noch derselbe.
Und sie spürt, daß ihr eigenes Herz genauso dumpf schlägt wie die Glocken der Kirche von Sandar, während sie ihm ins Gesicht starrt und merkt, daß er sie nicht wiedererkennt. Dann nickt er kurz, setzt sich den Hut auf und setzt seinen Weg fort, nachdem er gleichgültig einen Blick über die Friedhofsmauer geworfen hat.
Mathilde geht durch das Tor und setzt sich auf eine Bank, sie merkt, daß ihre Beine sie nicht länger tragen wollen. Ihr Kopf ist leer, ohne Gedanken, sie sitzt nur da und starrt in die Luft. Ein Spatz kommt angeflattert und hüpft hoffnungsvoll um ihre
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