Lerchenherzen
der weite, hellgrüne Mantelrücken um die Kurve verschwunden ist, setzt sie sich auf einen Stein am Weg und weint bitterlich.
29
So viele Tränen hat sie während all dieser Jahre um die kleinen Lebenskeime vergossen, die zu behalten ihr nicht gestattet war, daß es ihr scheint,als könne sie beinahe nicht mehr weinen. Tränen, so daß die Kopfkissenbezüge mit Mathildes schönen Häkeleinsätzen durchnäßt waren, weinen, dabei den Kopf im Kissen vergraben, weil Lars sie nicht hören sollte. Unter Mathildes behutsamen Händen hat sie getrauert und geblutet und ist nach wenigen Tagen wieder aufgestanden, zurück zum gewöhnlichen Alltag, ein jedes Mal mit ein bißchen weniger Glauben daran, daß es ihr einmal gelingen könnte, ein lebendiges Kind auszutragen.
Oft ist sie schwanger gewesen, wenn Lars auf Walfang hinausgefahren ist. Hatte seinen hoffnungsvollen Abschiedsblick im Gedächtnis, es ist ihm nie gelungen, die Hoffnung und den Traum von einem Erben vor ihr zu verbergen, so gut er es auch versuchte. Selbst würde er bestimmt genausogern ein kleines Mädchen gehabt haben, eine, mit der die kleine Solfrid spielen kann.
Aber weder Hoffen noch Träumen, weder Beten noch Beschwören haben vermocht, die kleinen Leben zu überreden, sich doch ruhig in ihr niederzulassen. Und
jetzt hat sie den Glauben verloren. Sie hat sich damit ausgesöhnt, kinderlos zu sein, und die Tränen, die sie an diesem Morgen im März vergießt, gelten
weniger ihrem eigenen Unglück als vielmehr der Jugendfreundin Borgny.
So hatte sie sich das Wiedersehen mit der Freundin aus Oslo nicht vorgestellt. Seit damals, zweiundvierzig, als Borgny um Hilfe bat, um den kleinen Judenjungen Simon zu retten, haben sie fast keinen Kontakt gehabt. Ragnhild schickte während des Krieges weiterhin regelmäßig Briefe, bekam aber immer seltener Antwort, und als der Frieden kam, hörten die Lebenszeichen von Borgny ganz auf.
Ragnhild machte zwar ein paar halbherzige Versuche, die Freundin wiederzufinden, aber rasch glitt das stille Mädchen mit dem seidenglänzenden Haar in die Ecke des Herzens, wo alte Freunde oftmals landen, wenn die Verbindung abbricht, selbst wenn sie niemals so gut war.
Aber nun, nach mehr als fünf Jahren, hat Borgny Kontakt aufgenommen, und der Brief, den Ragnhild bekommt, ist kein erfreulicher. Borgny schreibt, sie habe fortgeschrittene Tuberkulose. Sie sei allzu spät behandelt worden. Beide Lungenflügel seien betroffen. Sie möchte Ragnhild gerne treffen.
Warum sie in Sandefjord gelandet ist, weiß Ragnhild nicht – und ich auch nicht. Vermutlich bat sie darum, dorthin geschickt zu werden, um näher an Ragnhilds Heimatort zu sein. Sie hat niemanden sonst, zu dem sie Kontakt aufnehmen könnte. Jetzt ist Ragnhild unterwegs, um sie zu besuchen.
Borgny liegt in einem Einzelzimmer, und es ist nicht schwer zu erkennen, warum. Ein Blick auf das weiße, spitze Gesicht zeigt ihr, daß es schlecht um Borgny bestellt ist. Mit einer Art ungläubigen Erstaunens wird Ragnhild klar, daß Borgny sterben wird, und daß aus den Plänen, die Ragnhild während der letzten Tage geschmiedet hat, nichts werden wird. Sie wollte sie mit sich nach Hause nehmen. Sie hatte Borgny vor sich gesehen, wie sie an der sonnenbeschienenen Wand beim Windfang sitzt – die Frühjahrssonne wärmt so schön in dieser geschützten Ecke – mit der karierten Decke auf den Knien und einer Tasse mit Mathildes Johannisbeersaft in den mageren Händen, hatte gesehen, wie Borgny sich gesund und rotwangig und froh essen und trinken würde, beschützt von Ragnhilds Lachen und Mathildes kurz angebundener Fürsorge.
Mathilde war nicht sonderlich begeistert gewesen, natürlich nicht. Aber Ragnhild hatte auch nichts anderes erwartet, und daß sie mit der Ablehnung der Tante schon zurechtkommen würde, dessen ist sie sicher. Die beiden würden schon gut miteinander auskommen, in dem Maße, wie Mathilde mit irgend jemandem gut zurechtkommt. Sie sind sich auf eine Art so ähnlich, findet Ragnhild.
Beim Anblick der mageren, vom nahen Tod gezeichneten Freundin im Krankenhausbett wächstin Ragnhild eine stumme Frage. »Warum hast du nichts gesagt, Borgny? Warum hast du dich nicht früher bei mir gemeldet?« Sie ist in ihrem Alltag von so viel robustem Leben umgeben, daß sie sich nichts anderes vorstellen kann, als daß das Borgny angesteckt haben würde, wenn sie sie nur mit sich nach Ås hätte nehmen dürfen.
Jetzt sieht sie, daß Borgny nicht mehr viele Tage zu leben
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