Lerchenherzen
als ob ihn die Nähe mehr erschreckt als beruhigt. Aber er ist so klein und zart, und er zittert so sehr, daß sie nicht anders kann. Außerdem ist sein Bett naß und muß vollkommen neu gemacht werden.
Sie fühlt sich ganz und gar hilflos, weiß nicht, was sie zu diesem fremden Menschlein sagen soll. Rein intuitiv beginnt sie von dem einzigen zu sprechen, das ihnen gemeinsam ist, und selbst als er wieder zu weinen anfängt, spricht sie weiter über Borgny und die gemeinsame Zeit in Oslo.
Nach einer Weile merkt sie, daß er ihrer Stimme zuhört, und sie erzählt weiter die Episoden, an die sie sich erinnert, auch ein paar Gedichte, bis ihr das gleichmäßige Atmen verrät, daß er eingeschlafen ist. Da steht sie auf und wechselt sein Bettzeug, ehe sie ihn vorsichtig in sein Bett zurückträgt, denn sie will nicht, daß er auch in ihr Bett macht. Nicht in erster Linie weil ihr das etwas ausmachen würde, sondern weil sie spürt, er würdedann, wenn er in ihrem Bett liegt, noch ängstlicher sein. Außerdem will sie ihm keine Unarten angewöhnen, nur noch ein paar Wochen, dann kommt Lars nach Hause.
32
Es ist gut, daß sie diese Wochen alleine mit dem Jungen haben, ehe Lars vom Walfang zurückkehrt, das finden sie alle beide, Ragnhild wie Mathilde. Es gibt ihnen Zeit, sich kennenzulernen, nur sie drei. Ja, die kleine Solfrid kommt täglich, wie selbstverständlich, sie ist begeistert von dem neuen Spielkameraden, denn auf den Höfen in der Nähe gibt es niemanden in ihrem Alter.
Ansonsten kommen nur wenige Gäste, und zwar nicht, weil sie nicht neugierig sind, sondern weil Ragnhild darum gebeten hat, man möge ihn in der ersten Zeit in Ruhe lassen. Sie will nicht, daß jemand neugierig auf ihr »Deutschenkind« starrt.
Nach und nach kommt er nachts von allein angetappt. Und sie achtet darauf, daß neben dem Bett ein trockener Pyjama bereitliegt, so daß sie gar nicht aufstehen muß, sondern ihm den einfach schlaftrunken überziehen kann, ohne aufzustehen. So bleibt das Bett schön warm, und sie merkt, wieer sich behaglich in ihre Wärme kuschelt, nachdem er naß und kalt in seinem Bett aufgewacht war.
Eines Nachts kommt er mit trockenem Pyjama, und da sputen sich die beiden zurück in sein Zimmer, damit er auf den Nachttopf gehen kann, den sie unter sein Bett gestellt hat, ehe er zu ihr ins Bett kriecht. Sie streichelt ihm über den Kopf und sagt, das habe er prima gemacht. Nach und nach gibt es immer öfter trockene Nächte.
»Haben sie dich im Kinderheim geschlagen?« fragt sie ihn eines Nachts vorsichtig, und er antwortet, daß es nicht alle getan hätten, nur diejenigen, die auf »Deutschenkinder« böse waren. Und die schlugen nur, wenn er ins Bett gemacht hatte. Aber morgens, wenn sie sein Bettzeug wechselten, mußte er immer in der Schäm-dich-Ecke stehen, und die anderen Jungen im Schlafsaal nannten ihn »Pipi-Jan«. Bald nannten ihn alle Kinder so. Das und »Deutschenkind«.
In diesen Nächten kann er so vertrauensvoll sein, beinahe gesprächig, aber am Tag ist er schweigsam und schüchtern. Er hält sich in Ragnhilds Nähe auf, sie ist sein einziger Rückhalt, und es sieht so aus, als habe er Angst, sie würde verschwinden. Ragnhild spürt das und ist tief gerührt, denn so sehr wurde sie noch nie gebraucht. Wann immer sie bei ihrer täglichen Arbeit Zeit hat, nimmt sie ihn auf den Schoß und singt für ihn. Dann sitzt erein wenig angespannt auf ihren Knien, ängstlich, sie könnte finden, er sei zu schwer, und würde ihn deshalb absetzen.
Auch wenn er mit Solfrid spielt, ist er still und ängstlich. Er überläßt ihr die Führung, und weit weg vom Hause wagt er sich anfangs nur selten. Wenn sie zu ungestüm und laut wird oder wenn andere Kinder dazukommen, zieht er sich beunruhigt zu Ragnhild zurück – zu Ragnhild oder Mathilde.
Anfangs hatte er ein bißchen Angst vor Mathilde, aber sie hat sich dem kleinen Jungen gegenüber sanfter gezeigt, als Ragnhild sie jemals erlebt hat. Ihre Katze hat in einem alten Pappkarton in ihrer Kammer Junge bekommen, und abends nimmt sie ihn dann und wann mit dorthin und läßt ihn mit den drei kleinen getigerten Knäueln spielen, während sie selbst im Schaukelstuhl am Fenster sitzt und häkelt.
Aber meistens sitzen sie abends in der Küche, alle drei, und dann nehmen sie die Katzenmutter und ihre Jungen mit dorthin. Nein, genausooft sind sie übrigens zu viert, weil Solfrid gerne dableibt, bis sie nach Hause geschickt wird, weil es Zeit wird, schlafen zu gehen,
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