Lerchenherzen
nach einer Scheibe Brot mit Honig als Abendessen, zusammen mit Nils-Jan.
Dann sitzen sie an dem großen Küchentisch, Ragnhild hat den Korb mit den Sachen zum Stopfenoder ihr Strickzeug zur Hand, während Mathilde an der Nähmaschine sitzt. Sie ändert abgelegte Hemden und Hosen von Lars, dreht und wendet die Kleidungsstücke, die sie auf dem karierten Wachstuch ausgelegt hat, findet die am wenigsten zerschlissenen Stücke und skizziert kleine Bubensachen. Sie benutzt kein Schnittmuster, sondern schneidet und näht beinahe ein wenig auf gut Glück nach den Maßen, die sie von Nils-Jan genommen hat. Er steht bei diesen Gelegenheiten ganz ruhig zwischen ihren Knien, während sie ihn vorsichtig, aber bestimmt dreht. Ihr Mund ist fest zusammengekniffen, weil er nämlich voller Stecknadeln steckt, mit denen sie sorgfältig die kleinen Stoffteile zusammensteckt, die sie ihm anhält.
Er ist unglaublich geduldig und sehr tapfer beim Stillstehen. Es scheint, als würde er es mögen, auf diese etwas sachliche Art behandelt zu werden. Mathilde umarmt ihn niemals, nimmt ihn auch nicht auf den Schoß, aber es kann vorkommen, daß sie ihm rasch übers Haar oder über den Rücken streichelt, wenn sie ihn losschickt zu Solfrid oder zu den Katzenkindern, nachdem sie mit dem Abmessen fertig ist.
Eines Abends, nachdem Solfrid nach Hause gegangen ist, sind die jungen Katzen ganz besonders ausgelassen und verspielt. Sie sind vier, fünf Wochen alt, im niedlichsten Alter. Nils-Jan hat eine Zwirnrolle bekommen, durch die Mathilde einenRest Garn gezogen hat, als Spielzeug für die Katzen. Jetzt läßt er sich von den putzigen Bocksprüngen der Kätzchen mitreißen und bricht plötzlich in ein fröhliches und herzliches Lachen aus.
Das ist das erste Mal, daß die beiden Frauen ihn richtig ordentlich lachen hören. Mathilde hebt ihren Kopf von der Arbeit und schaut über den Brillenrand erst zu dem Jungen hin, dann zu Ragnhild. Und dann lächelt sie – ein strahlend schönes Lächeln. Ein Lächeln, das ihr strenges Gesicht aufhellt und es ganz anders aussehen läßt, jung und weich. Da denkt Ragnhild: »Ach, Mathilde, liebe Mathilde, wie hübsch mußt du einmal gewesen sein.«
33
Lars ist so besonnen, so groß und umsichtig und besonnen. Und dann ist er auch so ungekünstelt, sagen die Leute. Es gibt keinen, der ihn mit Titel oder Nachnamen anspricht, wie sie es bei den Schützen in den anderen Gemeinden tun. Keiner sagt »Walharpunier Lars«, sie sagen einfach Lars, Lars Ås oder Lars auf Ås.
»Ja, der Lars Ås, der ist immer noch ungekünstelt und sympathisch!« sagen die Leute, wenn ermit der Bless oder dem Braunen auf dem Weg zum Laden mit seinem kleinen Jungen auf den Knien vorbeifährt. Er zählt zu den geschicktesten Harpunieren meilenweit, aber im Sommer ist er einfach der Bauer Lars Ås. Der in einen Großbauernhof eingeheiratet und gerade einen kleinen fünfjährigen Pflegesohn zu sich genommen hat.
Er ist knapp einen Monat dagewesen, ehe Lars nach Hause kam. Er ist schon ein bißchen unbekümmerter und froher geworden, und die blassen Wangen haben einen Hauch von Farbe. Zusammen mit Solfrid wagt er sich unten auf die Straße, und die summende Erwartung all der wartenden Walfängerkinder hat ihn angesteckt.
Alle warten auf ihren Vater. Die, deren Vater zu Hause ist, warten auf einen großen Bruder oder einen Onkel. Solfrids Vater ist in dieser Saison nicht draußen gewesen, deshalb wartet sie auf Lars.
»Das solltest du auch tun, denn er ist ja eigentlich wie dein Vater, in gewisser Weise«, sagt sie, praktisch wie sie ist, zu Nils-Jan. Und Nils-Jan wartet. Er, der niemals einen Vater hatte, auf den er warten konnte, fängt an, der Begegnung mit Lars mit unendlicher Vorfreude entgegenzusehen.
Daß Ragnhild sich so freut, trägt dazu bei, die Spannung zu erhöhen. Jeden Abend hebt sie ihn hoch, damit er von dem Kalender an der Küchenwand den Tag, der vergangen ist, abreißen kann,und dann zählen sie gemeinsam, wie viele Tage es noch sind.
Mathilde hat bei Kaufmann Berg Stoff gekauft. Den Mund voller Stecknadeln nimmt sie Maß und heftet und näht, denn zum 17. Mai * soll der Junge einen funkelnagelneuen Feiertagsstaat haben, von Kopf bis Fuß neu eingekleidet soll er sein, wenn er Lars begrüßen wird. Sogar einen Haarschnitt und eine kleine Schirmmütze bekommt sie hin, geschickt wie sie ist.
Am letzten Abend putzen sie ihn heraus, weißes Hemd, anthrazitfarbene Hose mit ordentlicher Bügelfalte und dunkelblaue
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