Lerchenherzen
nach. Morgensist er beim ersten Hahnenschrei hoch, zieht sich selbst an und ist als erster unten im Kuhstall, vor Ragnhild und Lars.
Nachmittags geht er gemeinsam mit Lars in Gummistiefeln mit langen Schritten, um die Kühe zu holen, die draußen auf der Weide sind, vorläufig nur tagsüber. Er hält die große Hand von Lars und klopft mit seinem Stöckchen eifrig auf die mageren Kuhschinken, richtig männlich, solange die Kühe ihm die Rückseite zuwenden.
Es macht außerdem Spaß, die Eier im Hühnerhaus einzusammeln oder für Mathilde die Zentrifuge zu drehen, die ihn immer so sehr lobt, wie geschickt er darin sei, genau richtig zu kurbeln, »damit es schöne Sahne gibt«. – Mathilde, die selten bis niemals jemanden lobt! Aber am besten ist es mit Lars zusammen. So gut, daß Ragnhild und Mathilde beinahe eifersüchtig werden.
Gleichzeitig ist es so bewegend zu erleben, wie Nils-Jan an Lars einen Narren gefressen hat, daß es alle im Dorf zutiefst rührt. Die Leute gönnen Lars und Ragnhild dieses Kind, sie wissen, wie inbrünstig die beiden sich eigene Kinder gewünscht und wie lange sie auf einen Hoferben gewartet haben.
35
Nils-Jan pflückt so gerne Blumen. Vom ersten gelben Huflattich, der zerzaust im zeitigen Frühjahr an einem matschigen Wegrand auftaucht, bis zu den letzten unansehnlichen und unerschütterlichen Blüten von Kamille und Rainfarn, die sich unter der herbstlichen Kälte ducken, pflückt er Blumen, die er in farbenfrohen Sträußen anordnet und an die erwachsenen Frauen ringsum verschenkt.
Ragnhild und Gudrun, Milda und Harriet schlagen jedesmal, wenn er schüchtern mit einem Strauß weißer Margeriten, blauer Glockenblumen und gelber Butterblumen zu ihnen kommt, froh und überrascht die Hände zusammen.
»Nein, hast du so was schon gesehen! Ich kann es gar nicht glauben! Soll ich diese schönen Blumen bekommen? Das ist aber lieb!« sagen sie und staunen gleichermaßen über seine tadellos zusammengestellten Sträuße wie über Solfrids eher zufällig zusammengeraffte. Sie setzen die Blumen ins Wasser und stecken den frohen Schenkern ein Malzbonbon oder einen Keks zu, was jedenfalls für Solfrid sehr motivierend ist.
Aber am allerliebsten pflückt Nils-Jan Blumen für Mathilde, denn wenn sie auch weder die Hände über dem Kopf zusammenschlägt noch sich ausDankbarkeit gar nicht fassen kann, spürt er, daß sie es ist, die seine Sträuße am meisten schätzt.
Er weiß nicht, daß Mathilde nach und nach anfangen wird, von einem jeden Strauß, den er ihr schenkt, je eine Blüte unter ihrer schweren alten Truhe zu pressen, und sie anschließend mit kleinen Klebestreifen auf hellbraunes Butterbrotpapier befestigt, das sie zuvor in gleichmäßige, entsprechend große Rechtecke zugeschnitten hat.
Und er weiß nicht, daß der Stoß mit diesen zierlichen Blütenbögen, auf die sie mit ihrer altmodischen, schnörkeligen Handschrift »Von Nils-Jan« sowie Datum und Jahreszahl vermerkt und die sie in Leinen eingeschlagen in die große Truhe gepackt hat, daß dieser Stoß viele Jahre später von den beiden Frauen gefunden wird, die er am liebsten hat und in ihnen unendliches Mitleid mit der Dritten wecken wird.
Sogar ein einzelnes zartes, rosarotes Blütenblatt von einer Pfingstrose hat Mathilde gepreßt und archiviert. Sie hat es zu einem anderen gelegt, das viel älter sein muß. Als ich die beiden sah, entsann ich mich der Episode mit Harriets Pfingstrosen.
Im ganzen Ort gibt es keine Dahlien, die üppiger wären und farbenfroher leuchteten als Mathildes. Das gleiche gilt für ihre Akelei, für die Herbstastern und die Ringelblumen, gar nicht zu reden vom Phlox und den Gladiolen. Ja, an sich gilt dasfür die meisten Gartenblumen, denn sie hat unglaubliches Geschick mit ihnen. Aber mit den Pfingstrosen auf Lund kann sie nicht konkurrieren.
Wenn Harriets Pfingstrosen erblühen, sind sie ein herrlicher Anblick, oftmals trägt jede Pflanze mehr als fünfzig Blüten. Jede Blüte ist so groß wie der Kopf eines Neugeborenen und besteht aus vielen Schichten seidenweicher Blütenblätter in kräftigem Rosa, überzogen von einem hauchfeinen Netz dunklerer Adern.
Nils-Jan ist bald sechs Jahre alt, dies ist sein erster Besuch auf Lund, und niemals hat er etwas so überirdisch Schönes gesehen wie diese Blüten. Sie sind so wunderbar, daß er sie nicht zu berühren wagt, wie übergroß die Lust auch ist, die Hand auszustrecken und einen der schweren, üppigen Blütenköpfe anzufassen, so wie Solfrid
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