Lerchenherzen
ein Schirm um ihren Leib, und die Zöpfe mit den weißen Schleifen liegen wie waagrechte Schnüre hinter ihr, bis sie auf den Rücken schlagen, wenn die Schaukel auf der anderen Seite dem Höhepunkt naht und zurückgleitet. Die kleinen Beine in weißen Söckchen und schwarzen Riemchenschuhen beugen und strecken sich, um mitzuhelfen, Schwung zu bekommen.
Diese Kleine wird vielleicht keine blendende Schönheit sein, wenn sie herangewachsen ist, weil ihr Gesicht zu rund und die Nase nicht schön geformt ist. Wenn sie aber diese blitzenden Augen behält und ihr helles Lachen, wird sie auf ihre Weise dennoch schön sein.
Der Junge, der ihr Schwung gibt, ist nicht sehr groß, er ist schmal und zart und hat nichts von der zuversichtlichen, robusten Lebensfreude des Mädchens. In diesen wenigen Jahren hat er sich erholt. Das Leben mit Erwachsenen, die ihm nahestehen, mit genug Essen und Milch und nicht zuletzt mit den lebhaften Spielkameraden hat ihm gutgetan. Er wirkt ruhiger und fröhlicher als damals, als erkam, auch wenn er in Gesellschaft immer noch wortkarg ist. Zusammen mit Sol kann er jedoch richtig gesprächig werden, selbst wenn sie in der Regel diejenige ist, die das Reden übernimmt.
Auch jetzt plappert sie drauflos, drängelt, weil es höher hinaufgehen soll, und erzählt ihm, was sie dort oben aus der Luft sehen kann. Die Jakobsau mit der windschiefen Scheune am Ende und den Hügel mit all den anderen dahinter, sie tauchen auf und verschwinden wieder über dem Dach des Spielhauses im Takt mit den rhythmischen Bewegungen der Schaukel. Das gleiche gilt für die Pferde und Kühe und die glitzernde Badestelle ganz links im Blickfeld. Die Strahlen der Nachmittagssonne treffen das Dach der neuen Scheune auf Li und blenden Sol genau in dem Augenblick, als sich die Schaukel dem äußersten Ende ihres Bogens nähert und eine kleine Sekunde anhält, ehe sie zu den wartenden Händen des Jungen zurückgleitet.
»Lauf unter mir durch, Nils-Jan!«
Das gehört zu ihren vielen Spielen. Sie schaukelt, und er nimmt Anlauf und rennt darunter hindurch. Sie bekommt ein ganz schwindeliges Gefühl im Bauch, wenn sie hoch oben auf der Schaukel zwischen ihren Beinen hinunterschaut und den hellen Haarschopf unter sich sieht, hinuntersaust zu ihm, so nahe, daß ihre Schuhspitzen beinahe seinen schmalen Rücken streifen.
Er liebt dieses Spiel ebenfalls. Der spannende Moment, wenn er den Abstand berechnet, Anlauf nimmt und losrennt, während die Schaukel wieder auf dem Weg nach unten ist. Er wartet so lange, bis er sie beinahe an den Kopf bekommt, schlüpft aber doch rasch unter ihr durch, ihr mit Schrecken gemischtes Lachen gellt ihm in den Ohren.
Und dann zurück. Er wartet, bis auch sie wieder auf dem Rückweg ist, läuft mit ausgestreckten Armen johlend hinter ihr her, duckt sich und schlüpft unter ihren Beinen hindurch, während die Schaukel wendet.
Das Spiel wiederholen sie unendliche Male. Aber plötzlich ist er nicht mehr zu sehen, als sie zwischen ihren Beinen hinunterschaut. Ist er gestolpert oder hat er die Bewegung falsch berechnet? Sie kann ihn gar nicht sehen, hört nur den Schlag, als die Ecke des Brettes, auf dem sie sitzt, ihn an der Stirn trifft, genau über der Augenbraue.
Er schreit nicht. Sie ist es, die schreit. Außerstande, die Schaukel anzuhalten, pendelt sie über der leblosen Gestalt auf der Erde vor und zurück. Voller Angst starrt sie in das bleiche Gesicht, das Blut rinnt über seine Stirn in das weißblonde Haar. Sie klammert sich an die Kette der Schaukel und schreit – nach Mutter, nach Vater, nach Ragnhild und Mathilde.
Drinnen ist das Gespräch über den grauen Massey Ferguson so lebhaft und laut, daß niemand siehört. Nur Mathilde, die in die Küche gegangen war, um nach dem Kaffee zu sehen, hört etwas und kommt mit ihrem ungeduldigen: »Aber wo seid ihr denn, Kinder?« angerannt.
Sie erblickt das laut schreiende kleine Mädchen, das nicht einmal begriffen hat, daß es die Beine in die Luft halten muß, sondern immer wieder beim Vor- und Zurückschwingen hilflos den kleinen Körper unter sich streift, während die Bewegung immer geringer wird.
Mathilde hält die Schaukel an, schickt das Mädchen zu den anderen Erwachsenen hinauf, setzt sich auf den Boden und nimmt mit heftig klopfendem Herzen den bewußtlosen kleinen Jungen auf den Schoß.
Zeit ist etwas Sonderbares. Beinahe vierzig Jahre ist es her, seit sie zuletzt einen Menschen im Arm hielt. Beinahe vierzig Jahre, und das waren nur
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