Lerchenherzen
Zustände herrschen.
45
Mathildes Schürzen haben große Taschen. Besonders ihre hübsche kleingeblümte Sonntags- und Ausgehschürze, die sie angezogen hat, als sie an dem schönen Sonntagnachmittag von zu Hause wegging, um die Verwandten auf Rønnigen zu besuchen. Auf dem Hof auf Lund bleibt sie kurz stehen und wechselt ein paar Worte mit Harriet, die mit Peder im Schatten unter den Ahornbäumen sitzt und das schöne Wetter genießt. Und Peder wiegt sich hin und her und lächelt und sabbert und ist die Gutmütigkeit in Person, so wie immer. Groß und breit sitzt er auf der weißen Holzbank, stößt seine unverständlichen Laute aus und lächelt einfältig.
Nils-Jan und Solfrid begleiten Mathilde. Beidenist ein bißchen feierlich zumute, denn sie gehen auf Besuch nach Rønnigen, das ist schöner, als nur zum Spielen hinüberzulaufen.
Solfrid muß auf Peders Schoß und ihn ganz schnell kurz drücken, aber Nils-Jan, der sich immer noch nicht so ganz an den großen Mann mit dem Verstand eines Zweijährigen gewöhnt hat, klammert sich schüchtern an Mathildes Schürzenzipfel. Auch Mathilde ist richtig guter Dinge, und nicht ein böses Wort kommt über ihre Lippen. Sie lobt Harriets Kletterrosen in den höchsten Tönen, und wie sie da in der Sonne steht mit ihrer schweren Haarflechte um den Kopf und dem kleinen Jungen an der Seite, sieht sie richtig schön aus.
Nils-Jan hält sich am Schürzenzipfel fest, bis sie vom Hof sind. Dann läßt er los und rennt zusammen mit Solfrid vorneweg. Sie pflücken am Straßenrand Feldblumen und binden daraus hübsche kleine Sträuße, die Tante Milda bekommen soll.
In Rønnigen kommen aus allen Winkeln die Kinder, das tun sie immer, wenn Fremde auf den Hofplatz einbiegen. Sie scharen sich respektvoll neugierig um Mathilde, denn die aufrechte Gestalt im schwarzen Kleid lädt nicht zum Drängeln oder Unfugtreiben ein. Alle kennen aber ihre Schürzentaschen und wissen, daß sie jahrein, jahraus sowohl Kampferdrops als auch Malzbonbons enthalten. Und wenn mit den Walfängervorräten von Lars noch nicht Schluß ist, tauchen aus den geräumigenTaschen auch bunte Fruchtbonbons und flache, ovale Kaugummi in grünem Papier auf. Sie werden gerecht unter die Kinder verteilt, aber ohne Kopftätscheln oder andere Umschweife. Die Großen erhalten die Aufgabe, für diejenigen, die fehlen, Süßigkeiten aufzubewahren. Und dann schüttelt Mathilde die ganze Schar ab und geht hinein, um mit Milda und Sverre Kaffee zu trinken.
Die Kinder lutschen Drops und kauen Kaugummi und halten Ruhe, aber es dauert nicht lange, dann hat einer von ihnen mit dem Kaugummiklumpen einer der Schwestern gründlich die Haare verklebt. Dann ist es ja praktisch, einen tatkräftigen Bruder zu haben, der eine Schere besorgt und den kleinen Mädchenkopf von dem zähen Kaugummi mitsamt dem Großteil der Haare befreit.
46
»Geh heim, Olefejus!«
Die Aufforderung kommt mit scheinbar erwachsener Autorität von einem zehn- bis zwölfjährigen Mädchen und ist nicht auf den Hund gemünzt, der an seiner Laufleine über den Hof hin- und herrennt und bellt, sondern auf den betrübtenkleinen Zwei- bis Dreijährigen, der unschlüssig mit dem Daumen im Mund auf dem Grashang gleich unterhalb der Häuser steht.
Eine Schar Kinder mit Badesachen unter dem Arm sind unterwegs zum Fluß am Ende des Grundstücks. Das Heu ist zum Trocknen aufgehängt in langen duftenden Reihen, durch die man den Fluß sieht, wie er im Sonnenschein glitzert, dort, wo er sich weiter unten in einer trägen Schleife durch die Landschaft windet. Dorthin sind die Jungen unterwegs.
Zwischen den fünf, sechs hellbraunen Lockenköpfen hüpft und tanzt auch ein kleines Mädchen mit lebhaften blauen Augen und braunen Zöpfen mit roten Schleifen, während sich ein schmächtiger, beinahe weißhaariger kleiner Junge mit merkwürdig geschwungener Stirn vorsichtig am Rande der lärmenden Schar bewegt.
Es ist Nils-Jans erster Sommer im Ort, und er hält sich von der ausgelassenen Schar, die gleichermaßen großzügig Liebkosungen wie Ohrfeigen verteilt, immer noch ein wenig ängstlich fern.
Genauso großzügig sind sie mit Spitznamen. Besonders die kleineren Geschwister müssen sich mit etlichen abfinden, und der Allerkleinste, der auf Leif-Erik getauft worden ist, hört zur Zeit unter anderem auf den Namen Olefejus. Er hört auch auf den Namen Hickser, den die vierjährige Anne-Grete ihm verpaßt hat, nicht als zusätzlichenSpitznamen, sondern weil sie noch nicht so
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