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Lerchenherzen

Lerchenherzen

Titel: Lerchenherzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Skjelbred
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fort war.
    Wie die Wochen vergingen, schob er die Erinnerung an die Mutter mehr und mehr in den Hintergrund und schloß sich den Erwachsenen näher an, die ihn umgaben. Am Ende war das Bild der gebeugten, hustenden Gestalt, die so hilflos versucht hatte, ihn vor der böswilligen Verachtung ihrer Umgebung zu schützen, nur noch ein blasser Schatten.
    Davor standen Ragnhild, klein, stämmig, fest verwurzelt, und Lars, groß und besonnen. Ja, sogar Mathilde hatte rasch eine liebevolle Zuneigung zu dem kleinen, verschreckten Jungen gefaßt. Sie zeigte das niemals so wie Ragnhild mit Zärtlichkeiten, aber ihr Blick konnte manchmal mit einembeinahe neugierigen Ausdruck der dunklen Augen auf dem kleinen Gesicht ruhen, so als ob sie hinter etwas hersann, von dem sie selbst nicht so genau wußte, was es war.
    Hin und wieder passierte es, daß er ihren Blick auf sich spürte und sein Spiel unterbrach, beinahe verlegen durch ihr Starren. Dann strich sie ihm liebevoll über die geschwungene Stirn, murmelnd, er sei ein lieber Junge, um sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuzuwenden. Und er lernte schnell, daß diese raschen, beinahe scheuen Berührungen genausoviel Liebe in sich bargen wie Ragnhilds Umarmungen und Küsse.
    Im Laufe von Sommer und Herbst vergaß er fast, daß er einmal in einer anderen Realität zu Hause gewesen war. Als aber Lars im November zum Walfang abreiste, fing er zu Ragnhilds und Mathildes großer Verzweiflung wieder mit dem Bettnässen an. Sie konnten ihm versichern, soviel sie wollten, daß Lars im Frühling wieder zurückkommen würde, er konnte noch so viele Zeichnungen von Kühen und Pferden anfertigen, meistens Pferden, auf die er pflichtschuldig »für Lars« schrieb und die in Ragnhilds Brief gesteckt wurden, um mit der Post der Reederei nach Süd Georgia zu gehen, nichts half. Es half nicht einmal, daß Solfrids Vater in dieser Saison auch mit auf Walfang gefahren war und daß sie ihm ihr unerschütterliches Vertrauen zu vermitteln suchte, daß derVater im Frühling wiederkommen würde, so wie das die Walfänger schon immer getan haben. Nils-Jan war überzeugt, daß Lars aus seinem Leben verschwunden war, so wie sein eigener Vater, ehe Nils-Jan geboren wurde, und wie die Mutter vor wenigen Monaten.
    Als er deshalb mit den Sonntagskleidern, die ihm Mathilde genäht hatte, inmitten der Menschenmenge am Kai stand, war er nicht wie alle übrigen außer Rand und Band vor Freude und Erwartung. Aber Solfrid, die mit ihren weißen Kniestrümpfen, dem roten Jäckchen, dem kleingeblümten Röckchen und dem roten Hut neben ihm stand, die war es. Voller Eifer hüpfte sie auf und ab, winkte und schrie zu den Männern hinüber, die über der Reling des großen Schiffs hingen und schubsten und schoben, um als erste auf die Gangway und zu den Wartenden zu kommen. Als sie den Vater erblickte, schrie sie aus voller Kehle: »Vater, Vater, siehst du mich!«
    Und als da Nils-Jan die kraftvolle Gestalt von Lars gleich bei der Gangway ins Auge fiel, wurde er von Solfrids Eifer mitgerissen, und er schrie, daß es all den Lärm übertönte, zu Lars hinauf: »Vater, Vater, siehst du mich?«
    Ein einziges Mal ist Lars, der besonnene Lars, einer der ersten, die sich ihren Weg an Land bahnen. Und seither sagt Nils-Jan nur Mutter und Vater zu den
     Pflegeeltern.
    Als deshalb Nils-Jan plötzlich ins Blaue des Septembertages hinein sagte: »Sie war fast immer krank, meine Mutter«, glaubt Solfrid, er meine Ragnhild. Sie bleibt auf halbem Wege stehen, denn sie war noch einmal unten in dem Heidelbeergebüsch, um eine ihrer springlebendigen Nüsse wiederzufinden, starrt ihn mit großen Augen an und fragt: »Ragnhild?«
    Denn selbst zu der Zeit, als Solfrid noch ganz klein war und Ragnhild manchmal einige Tage im Bett bleiben mußte und sie das Mitgefühl ihrer Mutter und aller erwachsenen Frauen hatte: – Nein, nun ist es schon wieder schiefgegangen! –, so ist dies nichts, woran Solfrid sich erinnert, und es gibt keinen, den sie weniger mit Krankheit in Verbindung bringen würde als Ragnhild.
    »Nein, ich denke an meine richtige Mutter.«
    Er klopft und klopft auf eine Nuß, die schon geknackt vor ihm auf dem warmen Fels liegt.
    »Außerdem war sie immer so traurig.« Damit bricht er plötzlich in Tränen aus. Lange, atemlose Schluchzer, ganz schnell ist er unten vom Felsen, liegt er in den niedergetretenen Heidelbeerpflanzen, wo Sol lachend herumgetrampelt war, um ihre weggesprungenen Haselnüsse zu suchen, auf dem

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