Lerchenherzen
gut sprechen kann.
Der Alltagsname ist Olefejus – er wird ihm tatsächlich sein Leben lang anhängen –, und Inger schleudert ihn schroff in Richtung des unschlüssigen kleinen Wesens. Sie hat mit der Herde, auf die sie aufpassen muß, genug zu tun, und Milda hat gesagt, daß der Kleinste zu Hause auf dem Hof in der Wanne planschen kann.
»Geh heim, Olefejus!«
Der Kleine senkt den hellbraunen Lockenkopf. Die Mundwinkel links und rechts vom Daumen gehen nach unten, und der Windelpopo in hellblauer Baumwolle hängt besonders tief, als er sich kleinlaut zu den Häusern aufmacht. So bemitleidenswert sieht er aus, daß die kleine Anne-Grete, die ihre Zeit als Kleinstes vielleicht noch in frischer Erinnerung hat, den Anblick nicht aushält und mit einschmeichelnder Stimme eine Gegenmeldung losschickt: »Ach, komm her, Hickser, ich passe auf dich auf!«
Freudestrahlend dreht sich der Junge um und läuft wieder in die andere Richtung, aber er hat noch nicht viele Schritte gemacht, da wird er von einer schimpfenden großen Schwester wieder zurückgescheucht.
»Komm nur, Hickser!«
»Nein, geh heim, Olefejus!«
Natürlich gewinnt die Stärkere. Sie hat dieAutorität einer großen Schwester und außerdem einen gefährlich fest zupackenden Griff, der die kleine Schwester kopfüber in die Stoppeln versetzt und augenblicklich mit den Gegenbefehlen Schluß macht.
Olefejus trippelt enttäuscht nach Hause, und Anne-Grete muß getröstet werden, die Tränen getrocknet.
»Aber was ist denn, du Dummerchen. Nun wein doch nicht mehr, Bub!«
Und so darf Bub – das ist ja auch ein lustiger Spitzname für ein Mädchen –, Bub darf die große Schwester an die Hand nehmen und mit ihr dann um die Wette zum Fluß laufen.
»Wer ist erster!?«
Die Kinderschar rennt los wie ein Rudel eifriger Jagdhunde. Wer als erster beim ersten Loch an den Heustangen ankommt, hat im Prinzip gewonnen. Von ganz oben her ist es strengstens verboten, weiter als bis hier zu rennen, so daß der Wettlauf schon beim ersten Hindernis entschieden ist.
Außerdem gewinnt immer der größte Junge. Macht das was? Die Badekuhle wartet! Das Flußwasser über der Sandbank ist eiskalt. Genau hier macht der Fluß eine großzügige Kurve, so daß dies die größte Badestelle im Ort ist. Von nah und fern kommen den ganzen Sommer hindurch die Kinder zum Schwimmen her.
Hier machen Solfrid und Nils-Jan ihre erstenzaghaften Schwimmversuche, Ingers Hand fest unterm Kinn und den verblaßten, roten Schwimmgürtel um den Bauch. Der besteht aus fünf dicken gepolsterten Luftkissen und breiten weißen Bindebändern, die im Nacken und auf dem Rücken zugebunden werden. So alt ist er und oft gebraucht – und vollgesogen mit Wasser –, daß Solfrid eines Tages, als der Schwimmgürtel ins Wasser fällt und sinkt, entdeckt, daß sie schon lange im Tiefen schwimmen kann.
Einige Sommer lang planschen sie in einem riesengroßen schwarzen Traktorreifen herum, den Lars ihnen geschenkt hat. Sie sitzen einander gegenüber, immer hat sie die Beine über seine geschlungen, ganz auf dem Rand des Rings. Mit den Hinterteilen halbwegs im Wasser, lassen sie sich langsam herumtreiben und erforschen das Halbdunkel unter den Erlen am Flußufer.
Und viele Jahre später baden sie in einer Mittsommernacht heimlich und nackt im Fluß und entdecken, daß die enge Kinderfreundschaft noch andere Freuden zu bieten hat. Davon will ich dir jetzt aber noch nichts erzählen.
47
Er sieht nicht groß und prunkvoll aus, der Bauernhof von Ås, sondern eher mächtig und wohlhabend, wie er so gediegen und ruhig dort auf dem Hügelkamm liegt, nach dem er seinen Namen erhalten hat, und blickt mit freundlich glänzenden Fensterscheiben über den Ort. Ja, die Scheune ist wahrhaft groß genug, auch wenn sie kleiner ist als die neue auf Li, die frisch gestrichen weithin sichtbar im Ort aufragt. Auch die Scheune von Ås hat im übrigen in diesem Jahr einen neuen Anstrich bekommen, und der scheint mit all den weißen Fensterrahmen so schön in der Sonne. Die alten buckligen Scheiben der kleinen Fenster des Stalls schimmern, und die Auffahrt zur Scheune erstreckt ihr schnurgerades, schräg ansteigendes Profil vom Hof zum enormen, doppelten Scheunentor.
Ja, das Scheunentor von Ås ist großzügig, gewohnt, große, duftende Fuhren Heus aufzunehmen, die immer neue Generationen von zuverlässigen dunkelbraunen oder schwarzen Pferden aus dem Gudbrandsdal jeden Sommer über die Auffahrt in die halbdunkle Scheune
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