Lerchenherzen
wenige kurze Wochen, einen Frühling und einen Sommer lang, so voller Gefühl und Leben, daß in allen diesen Jahren kein Tag vergangen ist, an dem sie nicht daran gedacht hat. Heimliche, bittere Tränen hat sie geweint und sich nach dem Gefühl gesehnt, seine Arme zu spüren, die Schwere seines Kopfs in ihrem Schoß, die Wärme seiner nackten Haut an ihrer. Und nach dieser zarten Berührung, wenn ihr Zeigefinger über seine langen, gebogenen Wimpern glitt.
Nur ein einziges Mal hat sie dieses Gesicht, dasso unauslöschlich auf ihrer Netzhaut sitzt, daß sie es sich jederzeit vergegenwärtigen kann, wiedergesehen. Nicht die vom Alter gezeichneten Züge, die sie bei der Kirche von Sandar vor wenigen Jahren blitzschnell wiedererkannte, aber das schöne Gesicht des jungen Mannes aus jenem Sommer, eine Ewigkeit ist das her, das kann sie sehen.
Nein, Mathilde, das stimmt nicht! Du kannst seine Gesichtszüge nicht länger sehen, denn wir können das Bild eines Gesichtes nicht festhalten, wieviel es uns auch bedeutet haben mag. Es löst sich vor unserem inneren Auge langsam auf, so wie die Blütenblätter von Harriets Pfingstrose, die du einmal gepreßt und aufgeklebt hast. Nur in deinen Träumen kannst du seine Züge deutlich sehen.
Jetzt starrt sie hinunter auf ein anderes Gesicht, um so vieles jünger, aber dem, das sie in ihren Träumen heraufbeschwört, so ähnlich, die zart gewölbte, glatte Stirn und die kleinen Locken am Haaransatz mit dem merkwürdigen Schwung, die dichten Wimpern. Sie vergißt das Blut, das aus dem üblen Schnitt über der Augenbraue rinnt, und spürt wieder den Duft des Heus in Jakobs Scheune, als sie sich vorbeugt und den Zeigefinger über seine Wimpern gleiten läßt. Währenddessen tropfen ihre Tränen auf das Gesicht des Kindes, und sie flüstert einen Namen, den kein Mensch sieseit siebenunddreißig Jahren hat aussprechen hören. Harald, sagt sie, Harald.
Und wie damals, vor so langer Zeit, schlägt nun der Junge in ihrem Schoß die Augen auf und begegnet ihrem Blick mit jenem verwirrten Ausdruck, den Menschen nur zeigen, wenn sie aus der Bewußtlosigkeit oder aus dem Schlaf erwachen. Er spürt die Tränen auf Hals und Wangen und hört den Namen, den sie wie in Trance wiederholt, aber er, als der einzige, der jemals einen solchen Anfall von Schwäche bei ihr erleben wird, er ist noch so durcheinander, daß er weder die Tränen noch den Namen erfaßt.
Und dann ist der Augenblick vorüber, die Zeit beginnt wieder zu ticken. Ragnhild kommt angerannt, wirft sich auf die Knie und reißt den Jungen an sich mit dem sonnenklaren Recht einer Mutter, das sie sich nach und nach erarbeitet hat. Sie tupft sein Blut mit dem Taschentuch auf, das ihr Lars gereicht hat, hält ihn dicht an sich gepreßt und wiegt ihn tröstend, als er in Tränen ausbricht.
Auf Mathildes Tränen achtet keiner. Sie trocknen langsam auf ihren Wangen, wie sie so dasitzt, die leeren Hände geöffnet auf dem Schoß und mit einer Frage im Herzen, die sie nie zu stellen wagt und auf die sie deshalb auch nie eine Antwort erhält.
Warum hast du nur nie gefragt, Mathilde! Denn das hast du doch wohl nicht getan?
48
Solfrid und Nils-Jan sitzen auf einer kleinen Felsenkuppe auf einer Lichtung, die ringsum von dichtem Fichtenwald umgeben ist. Über die Felsen wachsen graue Flechten, Moos und Tüpfelfarn, ganz oben schaut der nackte Fels heraus, der dort eine kleine Schale bildet, in die sie Haselnüsse gelegt haben. Beide knacken sie mit einem Stein Nüsse, er mit genauen, angemessen festen Schlägen gegen eine Nuß, die er sich ordentlich zurechtgelegt hat, so daß der Kern meistens heil bleibt, wenn die Schale geknackt ist. Ihr fehlen nicht nur seine Geschicklichkeit, sondern auch seine Geduld, und sie haut aufs Geratewohl drauflos, so daß der Nußkern zerquetscht oder die ganze Nuß in hohem Bogen unten in dem Heidelbeergebüsch verschwindet. Dann lacht sie laut auf und kriecht von der Felsenkuppe hinunter, um zwischen den Büschen nach der Nuß zu suchen. Zwischendrin kaut sie geknackte Nußkerne und spuckt die Schale aus.
Er knackt die Nüsse besonnen und zielgerichtet und sammelt die heilen Kerne in zwei gleich hohen Häufchen, dabei ist er noch nachdenklicher als sonst. Gelegentlich hebt er den Blick von seiner Arbeit und läßt ihn über die Baumwipfel ringsum schweifen.
»Das ist unser Wald«, sagt er plötzlich, »dies alles hier ist unser Wald.«
Nils-Jan ist in diesem Frühjahr adoptiert worden. An einem frühen
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