Lerchenherzen
Sonntagmorgen, als Sol und die Eltern am Frühstückstisch saßen, kam er herein, nachdem er wie üblich an die Tür geklopft hatte, aber eifriger und rotwangiger, als ihn jemals einer gesehen hatte, und verkündete, daß er jetzt Hoferbe geworden sei. »Und du kannst gern meine Frau werden«, sagte er ernst zu Solfrid.
Solfrids Vater mußte über diese Worte schmunzeln. Später machten sie über den Kaffeetassen die Runde durchs Dorf, so wie das mit treuherzigen Aussprüchen von Kindern öfter geht. Solfrid fand gar nichts dabei, denn sie hatte nie an etwas anderes gedacht, als daß sie beide immer zusammenhalten würden, und ob sie nun auf Ås oder hier zu Hause wohnten, spielte eigentlich keine Rolle.
»Kann ich gerne«, antwortete sie damals bei seinem allerersten Heiratsantrag und war mehr damit beschäftigt, ob sich der Vater auch an diesem Sonntag von der leeren Eierschale würde foppen lassen, die sie verkehrt herum in einen Eierbecher gesetzt und vor ihn hingestellt hatte.
»Na, so etwas, bekomme ich noch ein Ei?« Ja, er war genauso überrascht und gespannt wie an jedem Sonntagmorgen bei diesem immergleichen Ritual, das alle Eltern von Kindern, die Eier essen, kennen.
»Nein, stell dir vor, ich bekomme zwei Eier, das ist aber nett.«
Aber die Mutter, die schon lange von den Adoptionsplänen wußte, strich Nils-Jan übers Haar und sagte in ihrer ruhigen Art: »Du bist Hoferbe geworden? Das ist aber fein, Nils-Jan Ås.«
Nun sitzt er da und schaut auf alles, was ihm gehört, ihm und Mutter und Vater, und spürt voller Freude diese Geborgenheit, in der warmen Herbstsonne auf einem kahlen Felsrücken zu sitzen, wo ringsum alles ihm gehört, und seine eigenen Haselnüsse zu knacken. Vielleicht wagt er deshalb, weil er sich so geborgen fühlt, an seine Mutter zu denken, an seine richtige Mutter. Als er aber anfängt, von ihr zu sprechen, begreift Solfrid zunächst nicht, wen er meint, denn er sagt schon seit einigen Jahren zu Ragnhild und Lars Mutter und Vater.
Während des ersten Jahres sagte er Ragnhild und Lars, niemals Mutter und Vater. Sie hatten es auch nicht anders erwartet. Er war fast sechs Jahre alt, als er kam, und er hatte eine andere Mutter, auch wenn er nie von ihr sprach. Er redete anfangs insgesamt wenig. Bewegte sich tagsüber scheu und vorsichtig zwischen den Erwachsenen, näßte jede Nacht ein und zeigte durch allerlei Gesten und Reaktionen, daß das Leben ziemlich rauh mit ihm umgesprungen war.
Er war freundlich, höflich und zurückhaltend, nahm dankbar die Zärtlichkeiten an, die ihm zuteil wurden, und begann nach und nach, zögernd, die eine oder andere ängstlich zu erwidern. Bis er begriff, daß er hier sein sollte, vergingen aber mehrere Monate. Die Mutter würde nie wiederkommen und ihn in die dunkle Wohnung auf dem Hinterhof zurückholen, wie sie es versprochen hatte, als sie ihn im Kinderheim abgegeben hatte, um in das Sanatorium zu fahren, wo sie ihren üblen Husten loswerden wollte.
Sie ist tot, erzählten ihm die Erwachsenen im Heim eines Tages mit ernsten, traurigen Gesichtern. Sie könnte ihn nun nie holen kommen, aber sie hatte dafür gesorgt, daß er, wenn sie sterben würde, zu freundlichen Menschen auf einen Hof auf dem Lande kommen würde. Er hatte keine Vorstellung, was das bedeuten könnte, denn er hatte nie etwas anderes gesehen als die Straßen und hohen Häuser von Oslo. Er würde nicht im Kinderheim aufwachsen müssen, darüber war er froh, denn er bekam Schläge, wenn er ins Bett gemacht hatte, und die großen Jungen traten nach ihm und nannten ihn »Deutschenkind«, genau wie die Jungen daheim auf dem Hinterhof. Ja, auch die Mädchen, aber die ziepten ihn meistens an den Haaren.
Hier gab es niemanden, der zu ihm »Deutschenkind« sagte, vielleicht wußten sie nicht, daß er eins war. Wenn er sowenig wie möglich redete,würden sie es vielleicht nicht herausfinden. Er hatte nie begriffen, was das Wort »Deutschenkind« bedeutete, nur daß es mit dem Krieg zu tun hatte, und daß es aus irgendeinem Grund allen anderen Menschen folgerichtig das Recht gab, ihn und die Mutter mit absolut grenzenloser Verachtung zu behandeln.
Anfangs vermißte er die Mutter jeden Tag, auch wenn es im Heim noch schlimmer gewesen war. Aber da hatte er sich damit trösten können, daß sie kommen und ihn holen würde. Nachdem er nach Ås gekommen war, wurde ihm klar, daß sie das nicht tun würde, daß es stimmte, was sie im Kinderheim erzählt hatten, daß sie nämlich für immer
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