Lerchenherzen
Schlafzimmerfenster und verbrachten einige fröstelig-kalteStunden in der Baumhütte, die sie sich hinter Jakobs Scheune in einer Fichte gebaut hatten. Saßen dicht zusammen, um die Wärme zu bewahren, und jagten sich mit Spukgeschichten gegenseitig solche Angst ein, daß sie am Ende mit schreckgeweiteten Augen Hand in Hand über den eiskalten nächtlichen Tau unter einem zauberhaften und unheimlichen Vollmond flüchteten.
Nach solchen gruseligen Nächten mußte Sol Nils-Jan nach Ås begleiten, denn er fürchtete sich mehr als sie. Und nie kam es ihm in den Sinn, daß er ihr gegenüber eine Ehre zu verteidigen habe, so wie den Freunden gegenüber. Sie ist ein Jahr jünger, aber durch die gesamte Kindheit hindurch ist sie größer als er, größer und viel unbeschwerter.
Dann wächst er ihr plötzlich über den Kopf, und zwar im Laufe eines Winters. Als Lars im Frühling vom Walfang zurückkehrt, sieht er, daß aus den Kindern, die er im Herbst verließ, Jugendliche geworden sind.
An ihrem Verhältnis zueinander verändert das nichts. Noch immer hängen sie zusammen wie die Kletten, auch wenn sich die Spiele geändert haben. Jetzt sind sie mit den anderen Jugendlichen unterwegs, spielen Platten auf Nils-Jans Transistor mit Plattenspieler, der tragbar ist und mit Batterien betrieben wird und für die Freunde eine so große Attraktion darstellt, daß sich an Sommerabendeneine ansehnliche Gruppe bei der Milchrampe von Harriet Lund versammelt.
Denn wie schon seit Generationen ist dies der Ort, wo sie sich versammeln. Auch wenn die auf Ås schöner und neuer ist, kommen die Jugendlichen aus der ganzen Gemeinde, ja selbst aus dem Nachbarort. Sie liegt einfach so günstig an der Weggabelung, zwar mitten im Ort, dennoch mit reichlich Abstand zum nächsten Haus und nach Lund zu durch die lange, prachtvolle Pappelallee geschützt.
Die Erwachsenen schmunzeln wissend, wenn sie vorbeikommen und sich an ihre eigene Jugend an der Milchrampe von Harriet Lund erinnern.
Sol und Nils-Jan kommen immer gemeinsam dorthin, in der Regel so sehr in ein vertrauliches Gespräch vertieft, daß es der Clique, die sich schon unter den Pappeln versammelt hat, nicht einfällt, sie aufzuziehen. Nicht miteinander. Ansonsten gibt es genug aufzuziehen.
»Bist du hinter Martin her, Sol? Glaubst du, wir hätten nicht gesehen, wie du dagesessen und ihn stundenlang angehimmelt hast? Da! Er kriegt total rote Ohren! Und Sol wird auch rot! Martin und Solfrid! Martin und Solfrid!«
Sol geht natürlich auf den Schuldigen los, so wie man es von ihr erwartet. Sie ist ein hübsches Mädchen und früh entwickelt, und sich mit ihr anzulegen ist ein Abenteuer für diese Jungen mit ihrenPubertätsträumen. Außerdem ist sie so wendig, daß man richtig nahe an sie rankommen muß, um die Oberhand zu gewinnen. Sie entschlüpft eifrigen Jungenarmen sehr geschickt, gleichzeitig geht sie aber einer richtigen Balgerei auch nicht aus dem Weg. Deshalb ist sie mächtig beliebt.
Nils-Jan und Solfrid sind nichts weiter als gute Freunde. Zusammen mit anderen ist er eher still und hält sich am liebsten aus allem heraus, dennoch ist er beliebt. Vielleicht wird er weniger aufgezogen als die anderen, denn er ist schwer zu fassen, verbal wie körperlich. Solfrid zieht ihn hin und wieder mit der einen oder anderen Freundin auf, von der sie weiß, daß sie ein bißchen für ihn schwärmt, aber das tut sie eigentlich nur, wenn sie unter sich sind.
Gerade ist Nils-Jan nach seiner ersten Walfang-Saison wieder daheim. Am liebsten wäre er schon in dem Jahr gefahren, als er mit der Schule fertig war, so wie einige der Klassenkameraden, aber die Eltern haben sich gesträubt und ihn überredet, noch ein Jahr die weiterführende Schule zu besuchen. Danach hat er Ragnhild ein paar Winter lang mit dem Hof geholfen, denn sie fanden, er sei noch zu jung, um hinauszuziehen, selbst wenn der Vater und »das halbe Dorf« mit auf dem gleichen Schiff fuhren.
Der Walfang hatte in den letzten Jahren mächtig Aufschwung genommen, so daß beinahe jederMann des Orts auf See war. Seit den Jahren vor dem Krieg waren nicht so viele Walfänger zu erwarten gewesen, und ihr Heimkommen ist mehr denn je eine feierliche Angelegenheit, wie Nationalfeiertag und Weihnachten auf einmal.
Im Frühjahr hatten die Hausfrauen fast überall einige hektische Wochen lang mit Seifenschaum und Bohnerwachs, Silberputzmittel und Salmiak das Haus auf den Kopf gestellt. Auf Ås hatte sich Ragnhilds frohes Summen beim Lüften
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