Lerchenherzen
sie so ganz zu glauben, ist das doch kein Trost für Kinder, die sich verirrt haben.
»Nimm mich an die Hand«, schnieft sie.
Und er nimmt ihre Hand, hat aber kein Wort des Trostes, denn ihm schwirrt der Gedanke durch den Kopf, daß jetzt, wo sie schon so lange weg sind, Ragnhild und Lars den Hof wohl verkauft haben. Den Hof, von dem sie und Mathilde bestimmt hatten, daß er ihn übernehmen soll, wenn er groß ist. Oder vielleicht haben sie ja einen neuen kleinen Hoferben bekommen.
Auf dem Ohr ist Sol taub. Sie hat keine Erfahrung mit Erwachsenen, die für immer verschwinden, und kann sich so etwas auch nicht als Möglichkeit vorstellen. Sie ist mehr wegen der getigerten junge Katze bekümmert, die sie gerade in Ås geschenkt bekommen hat, stell dir vor, wenn die jetzt schon groß ist! Und die frisch geschlüpften Küken, die wachsen doch so schnell!
Bald überschattet die Angst vor dem Rottenikkenalle anderen Kümmernisse. Er hat einen Mann mit dem Messer getötet und eine Dame entführt, die lange im Wald bleiben mußte!
Sie stacheln sich gegenseitig an, bis sie schier besinnungslos sind vor Angst. Und als aus der Dunkelheit nur wenige Meter vor ihnen wie aus der Erde geschossen eine Gestalt auftaucht, meinen sie einen Augenblick lang, das Herz bliebe ihnen vor Entsetzen stehen. Erst als sie das geblümte Kopftuch erkennen und damit wissen, wer es ist, stürzen sie alle beide auf Evine zu und klammern sich laut schluchzend an ihre Beine.
Und die stille und menschenscheue Evine, die seit bald einem Menschenalter durch die Wälder streift, sie nimmt wortlos jeden an eine Hand und bringt sie durch die mittlerweile pechschwarze Dunkelheit nach Hause.
49
Evine begleitet Nils-Jan und Solfrid von nun an mit vorsichtigem und schüchternem Interesse durch die Jahre ihrer Kindheit und Jugend. Umherstreifend wie stets, betrachtet sie die beiden spielenden Kinder von ihrem Platz am Rande derGesellschaft aus wie ein alter Hund, der den Kopf auf die Pfoten gelegt hat und zwei tolpatschige, spielende Welpen beobachtet.
Wenn sie einander am Jakobshügel begegnen oder auf der Heide, lehrt sie die beiden die Namen von Pflanzen und Blumen, und sie lehrt sie Buchfink und Rotkehlchen am Gesang zu erkennen. Es gibt wohl kein Gras, und sei es noch so unbedeutend, von dem sie nicht den Namen wüßte, nicht einen Vogel, den sie nicht nach seinem Gesang bestimmen könnte. Und in einer dunkelblauen Frühlingsnacht, als sich die beiden Halbwüchsigen unerlaubterweise davongeschlichen haben, nimmt sie sie mit zum Unterholz am Fluß, wo sie den Gesang der Nachtigall erleben.
Sie sieht die beiden heranwachsen, sieht ihre Entwicklung von Kindern zu Jugendlichen, und wie ihr Verhältnis zueinander seinen Charakter verändert. Und mit der Intuition von Menschen, die allein und am Rande leben und die viel Zeit haben, über andere nachzudenken, entdeckt sie, noch vor den beiden selbst, was die Jahre noch für sie bereithalten.
Sie haben nie geglaubt, daß es auf diese Weise geschehen würde. Nein, sie haben wohl insgesamt überhaupt nicht viel darüber nachgedacht, aber wenn, dann hätten sie nicht geglaubt, daß es so passieren würde. Nach und nach würde es sichverändern, aber nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Später stellen sie fest, daß es wohl auch nicht so war, aber in dem entscheidenden Augenblick fühlte es sich so an. Eines Tages sehen sie sich an, wie sie es zuvor tausend Mal getan haben, und merken plötzlich, etwas ist ganz anders als zuvor.
Eigentlich waren sie immer zwei. Wie Bruder und Schwester – sie haben ja beide keine Geschwister – haben sie die Kindheit hindurch zusammengeklebt, gemeinsam mit einem anderen Geschwisterpaar, Hallvard und Anne-Grete von Rønnigen, wie ein vierblättriges Kleeblatt. Zwar haben sie sich auch gezankt und gerauft, aber meist waren sie im nächsten Moment wieder versöhnt. Gewöhnlich waren sie nur Sol und Nils-Jan. Fast jedes Wochenende haben sie gemeinsam übernachtet, meistens auf Ås, denn Sols Mutter war oft so niedergedrückt, und all der Kinderkram wurde ihr zuviel. Und wenn es ihr gutging, nahm sie gern an den Treffen der Mission teil und war froh, wenn Ragnhild auf die Kinder aufpaßte.
Nachdem sie in die Schule gekommen waren, durften sie unter der Woche nicht gemeinsam übernachten, denn sie schwatzten und kicherten dann die halbe Nacht, so daß der Schlaf zu kurz kam. In den kühlen Nächten des Frühsommers sprangen sie einfach lautlos aus dem jeweiligen
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