Lerchenherzen
Bauch.
Solfrid ist ganz außer sich, weil sie ihn in all der Zeit, wo sie sich nun kennen – gab es tatsächlich eine Zeit, wo das anders war? –, in all der Zeit hatsie ihn nie auf diese Weise weinen sehen. Sie wirft sich in die Heidelbeerpflanzen neben ihn, nein mehr oder weniger auf ihn, schlingt weinend die dünnen Arme einer Achtjährigen um ihn und wiegt ihn, so, wie sie viele Jahre später ebenso traurig sein neugeborenes kleines Kind wiegen wird. Wie Frauen jeder Größe, jeden Alters und jeder Farbe durch alle Zeiten hindurch kleine Männer und große Jungen gewiegt und getröstet haben.
»Hör doch auf zu weinen, Nils-Jan«, heult sie, »mein lieber, lieber Nils-Jan, sei so gut und weine nicht!«
Aber er hört nicht auf. Der Wald steht still und lauscht verwundert zwei kleinen Menschenkindern, die aus einer Verzweiflung heraus, deren Umfang sie nicht erfassen können, weinen, er mit dem Gesicht auf den geballten Fäusten auf der Erde, sie mit ihrem streifigen kleinen Gesicht auf seinem Rücken, wo ein Strom von Tränen und Rotz sich als wachsender Fleck auf der hellbraunen Windjacke ausbreitet.
Da hebt sie den Kopf: »Schau, Nils-Jan, ich habe ein Herz auf deinem Rücken gemacht!«
Sie wischt sich mit ihrem Jackenärmel die Nase ab, zieht Nils-Jan hoch, so daß er sitzt, und bringt es fertig, daß er die Jacke auszieht, damit er sehen kann, sie hat wirklich einen herzförmigen dunklen Flecken aus Rotz und Tränen auf seinem Rückengemacht. Und da müssen sie beide ein bißchen lächeln, zwischen den langen Schluchzern von Kindern, die eine Weile geweint haben.
Sie setzen sich, seine Jacke über den Knien, mit dem Rücken an den Fels, und während das Herz langsam trocknet und verschwindet, erzählt er ihr von seiner Mutter.
Er erzählt alles, woran er sich erinnern kann, alles, wovon er nicht ahnte, daß er es erinnerte. Und während er redet, tritt ihr bleicher Schatten aus den Tiefen der Erinnerung hervor und wird zu einem klaren Bild von seiner freundlichen, zuverlässigen, traurigen, einsamen, tröstenden, kranken, hustenden, kämpfenden Mutter.
Er erzählt so lange und so lebendig, daß ihr Bild auch klar vor Solfrid tritt. Und sie ist von grenzenlosem Mitgefühl erfüllt, so groß, daß sie nicht weiß, wie sie damit fertig werden soll. Sie kann nur seine Hand drücken und wieder und wieder sagen: »Du hast ja mich, Nils-Jan. Du hast ja mich und Ragnhild und Lars und Mathilde und Mutter und Vater und …«
Und plötzlich sehnt sie sich voller Angst nach all den Sicherheit gebenden Erwachsenen. Sie zieht ihn hoch und ruft, daß sie nach Hause will, daß sie sich beeilen müssen, nach Hause zu kommen.
Während sie dort saßen und redeten, ist es kühl geworden, und über die Baumwipfel hat sichdas Abenddunkel gesenkt und läßt die schweren Fichten bläulich erscheinen, die erste Andeutung dafür, daß der Herbst naht.
Einen Moment lang stehen sie und schauen sich um, verwirrt, so, als ob sie gerade eben aus einer anderen Dimension gefallen wären, in eine Landschaft hinein, die fremd und drohend um sie steht. Mit einem Mal rennen sie wie auf Kommando drauflos wie erschrockene Rehe, rennen weg, von seiner Jacke und vom Felsen mit den Haselnüssen. Ohne einen Gedanken stürzen sie davon, wollen nur heim, heim! Sie rennen, bis sie vollkommen entkräftet stehenbleiben, aber da sind sie längst weit weg von den bekannten Pfaden.
Dann gehen sie nur noch aufs Geratewohl. Das Dunkel wird dichter, die Sterne am Himmel über ihnen treten deutlicher hervor. Ein Uhu schreit zwischen den Bäumen. Manchmal stolpern sie über Baumwurzeln oder Steine, aber sie haben zu viel Angst, als daß sie über Schürfwunden oder Schrammen weinen würden. Beide haben sie den Begriff für Zeit verloren.
Sie denkt jetzt an »Rottenikken«, den vogelfreien Waldmenschen und Dieb, der viele Jahre lang durch die Wälder gestreift ist, auf der Flucht vor der Polizei und vor Recht und Gesetz. Wie schon oft und wie es durch Solfrids gesamte Kindheit hindurch geistern wird, geht wieder einmal das Gerücht, er sei aus dem Gefängnis entkommenund treibe sich wieder hier in den Wäldern von Vestfold herum.
Ja, Sverre von Rønnigen soll ihm sogar auf einer seiner Verkaufstouren begegnet sein und ihm, zu Mathildes Verzweiflung, ihren besten Milcheimer für fünfundachtzig Úre verkauft haben. Sol und Nils-Jan haben gestern am Abendbrottisch die Geschichte gehört, und auch wenn Ragnhild und Mathilde nicht den Eindruck machten,
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